Die Berliner „Bülowstrasse“ wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Es handelt sich um einen typischen Schmelztiegel in der Großstadt, irgendwo zwischen Kreuzberg, Charlottenburg und Schöneberg. Doch spätestens mit dem gleichnamigen Album von LEA, welches am 05.05.2023 erscheinen wird, bekommt die Straße ihren festen Platz in der an musikalischen Anekdoten und Erzählungen so reichen Hauptstadt. Wie das Album bei uns ankommt, lest ihr in unserer Albumreview.
Die Zuhörenden werden unorthodoxerweise mit einem aufgezeichneten Telefongespräch ins Album geschmissen, bevor der erste richtige Song „Pass auf mich auf“ diesen typischen Zweiklang von LEAs einfühlsamer Stimme und starkem Rap-Gesang von LUVRE47 zelebriert, welche mit einem coolen Beat gepaart sind, der am besten laut zu hören ist. In der Single-Version wurden der Skit und das Lied zwar zusammengefasst, erzeugen aber trotzdem erzählerisch die gleiche Situation. Besonders schön ist dann der Übergang zu „Nieselregen“ gestaltet, da anfangs zunächst der Sprachgesang rhythmisch aufgegriffen wurde, bevor es unter vollem Klavier-Einsatz sehr baladig wird. Wenngleich es insgesamt interessantere Songs geben mag, kann man der Singer/Songwriterin hier aber eine hohe Authentizität attestieren. Der vierte Track, wieder ein Skit, wird dann ganz wild und dreht sich thematisch um Johanna von Orleans, bevor die Protagonistin zu einem Treffen in der titelgebenden „Bülowstrasse“ eingeladen wird. An dieser Stelle entfaltet sich erstmals die ganze Tragweite des ganz untypischen Konzeptes, welches LEA sich für ihr fünftes Studioalbum überlegte. Denn das ganze Album wird immer wieder von kurzen, narrativen Einschüben durchzogen, die eine Geschichte aus Westberlin beschreiben. Dabei baut sich die Storyline nahezu bedrohlich auf und wird auch nicht am Ende in Wohlgefallen aufgelöst, sodass durchaus ein negativer Nachgeschmack in Bezug auf die Geschichte verbleibt.
Allgemein sind diese Skits sehr speziell. Auf der einen Seite zeugt das Album von einem mehr als herausragenden lyrischen Aufbau. Durch die Erzählszenen sind die Zuhörenden nah am Erzählen und werden von der übergreifende Geschichte nahezu mitgerissen, sodass man am Ende über den Ausgang wirklich geschockt ist. Mit dieser besonderen Erzählweise nimmt man sich andererseits natürlich auch ein paar Freiheiten. So wird es den Zuhörenden erschwert sich in die Emotionalität der tragenden Stücke wie etwa „Mutprobe“ oder „Würfelbecher“ einzufühlen, da der Hörfluss der Songs immer wieder unterbrochen wird. Die Version ohne die Skits ist daher auf jeden Fall absolut hörenswert. Auch die Qualität mag manchmal etwas zu wünschen übrig lassen, da es immer mal wieder ein bisschen an Schultheater erinnert. Zudem entsteht hin und wieder der Eindruck, dass die musikalischen Stücke sehr an ähnliche Erzählstrukturen angepasst wurde. Somit gibt es weitestgehend nur eine geringe Varianz an Tempo und Lautstärke. Obwohl der Fokus vielleicht teilweise etwas verschwommen wahrgenommen werden mag, sollte eine derart kreative Aufarbeitung der besungenen Thematiken auf jeden Fall belohnt werden.
Außerdem geht das Konzept insofern auf, dass man die Lieder viel bewusster wahrnimmt und von der schönen, teilweise gar zerbrechlichen, Stimme intensiv mitgenommen wird. Gerade „Mutprobe“ und das sehr harmonische und melodische „Fuchs“ kreieren Momente, die für Fans einfach nur schön sind und für die man LEA liebt. Leider gibt es mur meiner Meinung nach davon zu wenige Momente auf dem Album und man vermisst vergeblich einen dieser ikonischen Tracks, wie man sie von vorherigen Alben kannte. Des Weiteren sind auch durchaus einige Schwächen zu benennen. So wirkt „Würde uns jemand vermissen“ wirklich exzessiv melodramatisch, sodass es seine Authentizität etwas einbüßt. Allgemein steigern sich gen Ende die Konflikte und es kommen immer mehr Probleme hinzu, die letztendlich anscheinend ungelöst bleiben. Zwar versuchen treibende Beats und fast schon bewusst positiv getrimmte Tracks wie „Nach Hause“ diesen Funken Hoffnung zu generieren, aber die eher schwere Thematik mit ihrer drückenden Stimmung bleibt überwiegend. Zu erwähnen ist zusätzlich die „Disco“-Nummer „Aperol im Glas„, die ich aus der einfachen Tatsache heraus, dass in ihr am meisten passierte, am ausführlichsten gefeiert habe. Wenngleich der Track direkt im Club laufen konnte, fiel er als einziger aus der sonst so mühsam und achtvoll konstruierten Geschichte. Trotzdem hätte ich mir immer einige Sekunden mehr von den einzelnen Songs gewünscht, da kein Track länger als drei Minuten dauert.
Insgesamt bleibt ein etwas ambivalenter Eindruck zurück. Das Konzept mit den Skits ist sehr kreativer und ungewöhnlicher Ansatz, mag aber nicht für jeden und jede etwas sein. Was in puncto Storytelling sowohl musikalisch als auch textlich geleistet wurde, ist mehr als bemerkenswert, wenngleich man sich einige Freiheiten dadurch verwehrte. Zwar gibt es immer wieder diese schönen, zerbrechlichen und typischen LEA-Phasen, doch hätte es von diesen „Catch“- Momenten gerne mehr sein dürfen. Insgesamt waren die anderen Alben vermutlich insgesamt musikalisch betrachtet etwas stärker, doch natürlich ist die Qualität der Singer/Songwriterin gewohnt hoch. Wenn man also Lust auf ein etwas unkonventionelles, erzählerisch extrem starkes Stück hat, ist man in der „Bülowstrasse“ bestens beraten.
Fotocredit: Calvin Mueller