Es gibt diese Platten, die einen nicht mehr loslassen, weil sie Fragen stellen, die so einfach klingen und doch ins Mark treffen. „Bleib Lieb“, das zweite Album des Brüderduos Ottolien aus Hannover, ist so eine Platte. Bereits mit ihrem Debüt „Wir tun uns so gut weh“ haben sich Leo und Jonas Ottolien einen Platz in der deutschsprachigen Indie-Szene erkämpft. Mit ihrem neuen Werk zeigen sie eindrucksvoll, dass dieser Platz ihnen zurecht gehört.
Das Album kommt mit einer musikalischen Klammer daher: Als Opener gibt es den Track „Birnenbaum Part I“ und als Closer „Birnenbaum Part II“. Dazwischen entfaltet sich ein Spannungsbogen, der zwischen großer Geste und intimer Verletzlichkeit changiert. Die beiden Songs erzählen von Vergänglichkeit, Trauer und einer eigenartigen Schönheit, die in der Akzeptanz des Unvermeidlichen liegt. Der Birnenbaum selbst steht dabei als kommunikatives Symbol – ein Baum im Garten eines verstorbenen Familienmitglieds, an den sich die Brüder wenden, um sich mit dieser Person auszutauschen. „Bin ich froh, dass ich das hier noch erleben muss“– eine Zeile, die im Kopf hängen bleibt wie der letzte Atemzug eines besonders langen Tages.
Was „Bleib Lieb“ besonders macht, ist die Fähigkeit der Brüder, zutiefst persönliche Geschichten zu erzählen und dabei viel von sich preiszugeben. So gehört der Track „Mautstelle“ zu den Keytracks der Platte und beschreibt eine verkorkste Urlaubsfahrt – eine Geschichte voller Konflikte und Stillstand, die in ihrer schonungslosen Ehrlichkeit eine seltene Tiefe erreicht. Dieses Erzählhandwerk zieht sich durch das gesamte Album und verleiht jedem Song eine persönliche Note, die sich nicht von der Oberfläche abspulen lässt.
Dabei fällt auf, dass die neuen Songs allesamt sehr kurz sind und stets um die 2:30-Minuten-Marke kreisen. In dieser kompakten Form gelingt es Ottolien, ihre Emotionen präzise auf den Punkt zu bringen, ohne dabei an Wirkung einzubüßen. Auf der anderen Seite steht jedoch auch der Zeitgeist, dem sich die beiden Musiker hier beugen. Denn Tracks wie „Nicht Kaputt” oder „Bleib Lieb” schreien geradezu nach einer weiteren Bridge oder einem ausuferndem Outro.
Und dass die beiden Brüder mit Nirvana und The Cure musikalisch sozialisiert, hört man auch an der ein oder anderen Stelle des Albums. Ganz besonders bei „Schwerelosigkeit“, ein Song, der sich mit The-Cure-Schrammel-Gitarren an das Gefühl der Sorglosigkeit klammert, während „Mach’s gut“ das melancholische Abwinken auf eine ganze Beziehung ist – voller Resignation und doch bittersüß.
Mit „Bleib Lieb“ haben Ottolien eine Platte gemacht, die in ihrer Offenheit und Verletzlichkeit besticht. Und damit unterfüttern die beiden Brüder genau die Stärke, die ihre Band so unverkennbar und besonders macht. Persönlich, politisch, ehrlich, kämpferisch und tröstend.
Review: Marc Erdbrügger
Fotocredit: Christian Bardenhorst