Am 20. Oktober ist es endlich so weit: Die deutsche Punkrock-Band Engst lässt endlich ihr lang ersehntes drittes Album „Irgendwas ist immer“ auf die Welt los. Im Interview mit dem charismatischen Frontmann der Band erfahrt ihr nicht nur, warum „Irgendwas ist immer“ ein absolutes Must-hear ist. Nein. Ihr erfahrt auch, welche Beziehung er zum neuen Slime-Sänger Tex Brasket hat und welche skurrilen Momente er mit der AfD erlebte. Kurzum: Ein Interview, das ihr nicht verpassen solltet.
Frontstage Magazine: Matthias, wie schön, dass du Zeit für unser Interview gefunden hast. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden: Drittes Album. Mega geil. Ich hab‘ schon reinhören dürfen und die Review dazu ist auch fast fertig. Wie würdest du eure dritte Platte „Irgendwas ist immer“ beschreiben?
Matthias: „Irgendwas ist immer“ ist meiner Meinung nach eine Platte, die eine gute Mischung aus unserem ersten Album „Flächenbrand“ und unserer zweiten Platte „Schöne neue Welt“ ist. Unser Debütalbum ist insgesamt relativ rough und auch vom Sound her relativ hart produziert. Das zweite Album ist dagegen künstlerisch anspruchsvoller, weil es viel Verspieltes und viele Halbtöne enthält. Auch die Gesangslinien sind eher von der hohen Kunst des Singens. Unser drittes Album hingegen ist im Vergleich zu den beiden Vorgängern eine gute Symbiose geworden. Die Vorgänger waren etwas rockiger und teilweise auch metallastiger. Deshalb würde ich unser neues Album als eine sehr, sehr gute deutsche Pop-Punk-Platte bezeichnen.
Frontstage Magazine: Wenn du die Alben miteinander vergleichst: Inwieweit würdest du sagen, habt ihr euch während der Schreibphase eures dritten Albums weiterentwickelt oder Einflüsse mit aufgenommen, die ihr vorher noch nicht hattet?
Matthias: Das Thema der Weiterentwicklung ist immer ein bisschen schwierig. Wir versuchen immer, Alben oder Songs im Allgemeinen so zu schreiben, dass sie sich in dem Moment, in dem sie entstehen, echt und authentisch anfühlen. Bei unserem neuen Album würde ich nicht unbedingt von einer Weiterentwicklung sprechen, sondern eher von einer Vereinfachung. Wir haben bewusst auf viel Schnickschnack verzichtet, weil es uns beim Schreiben des Albums gar nicht so wichtig war, Mucke für Mucker zu machen. Im Großen und Ganzen wollten wir, dass die Platte ein bisschen rougher und straighter wird – sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf die Produktion. Während des Schreibprozesses haben wir uns weniger darauf konzentriert, bestimmte Erwartungen zu erfüllen, sondern mehr auf den Texten. Bei unserer aktuellen Platte sind die Texte jetzt mehr in den Vordergrund gerückt als noch auf den Alben davor, weil es einfach weniger Schnickschnack gibt. Das hat sich auch richtig angefühlt. Bei unserem neuen Album war uns die Message sehr, sehr wichtig. Deshalb haben wir einfach viel weggelassen. Der Fortschritt bei „Irgendwas ist immer“ war sozusagen, wieder einen Schritt zurückzugehen und die Dinge zu vereinfachen.
Frontstage Magazine: Das klingt spannend. Während ich euer Album gehört habe, ist mir aufgefallen, wie unglaublich vielschichtig und abwechslungsreich es ist. „Irgendwas ist immer“ bietet eine tolle Mischung aus Emotionen und Stilen. Wie habt ihr es geschafft, diese Balance zwischen Melancholie und Euphorie zu finden?
Matthias: Ich glaube, das war von Anfang an schon so das Geheimnis von Engst, was uns am Anfang auch negativ ausgelegt wurde. Als wir die Band gegründet haben und auch die ersten Sachen rausgebracht haben, waren viele Manager und Labels gar nicht begeistert, dass unsere Musik so vielschichtig ist. Unser großes Credo ist und war immer, dass wir nicht die Schublade, sondern der Schrank sind. Unsere Band ist sehr, sehr vielschichtig und unsere Charaktere sind es auch. Das spiegelt sich auch in den Songs wider. Der Großteil der Platte ist auch während der Corona-Zeit entstanden, die für uns ein Wechselbad der Gefühle war. Es ist viel Scheiße passiert, aber auch viel Schönes. Wie du es gerade so schön beschrieben hast, zwischen Niedergeschlagenheit und Euphorie, das beschreibt emotional unsere letzten drei Jahre sehr, sehr gut. Wenn ich die Platte jetzt mit ein bisschen Abstand nochmal mal höre, fällt mir immer wieder auf, wie viel Scheiße in dieser Zeit passiert ist, aber auch, wie viele wundervolle Dinge passiert sind. Ich glaube, das ist es, was uns am Ende ausmacht. Wir schreiben auch alles autobiografisch. Also all unsere Songs, alle Inhalte und alle Songtexte sind schon hart mit unserem eigenen Leben verknüpft. Und dadurch entstehen auch diese Berg- und Talfahrten, die du gerade so schön beschrieben hast.
Frontstage Magazine: Du hast gerade gesagt, dass eure Songs einen autobiografischen Charakter haben und auch die Texte auf eurem aktuellen Album eure persönlichen Erfahrungen und Geschichten widerspiegeln. Kannst du ein bisschen mehr darüber erzählen, wie du die Inspiration für diese Songs gefunden hast?
Matthias: Die Themen, die mich inspirieren, sind Dinge, die mich in auch im Alltag begleiten. Das ist natürlich manchmal ein bisschen schwierig, weil man sich als Künstler ein bisschen überlegen muss, wie viel man von sich preisgeben möchte, weil man sich damit natürlich auch angreifbar und verletzlich macht. Nicht jeder, der die Songs da draußen hört, ist automatisch ein Fan. Um mal ein plumpes Beispiel zu nennen: Wir haben viele Hau-drauf-Nummern, aber auch viele Balladen. Da passiert es natürlich schon mal, wie bei der Nummer „Au Revoir“ zum Beispiel, dass die Leute schreiben „was für eine weichgespülte Scheiße“. Da muss man als Musiker auch ein hartes Fell haben und es nicht an sich ranlassen.
Aber trotzdem sind die ganzen Inhalte sehr, sehr eng mit meinem eigenen Leben verknüpft und mit Dingen, die mich einfach im Alltag wirklich hart und im Nachhinein beschäftigen. Unsere neue Platte beginnt ja mit „Digitale Liebe“. Der Song dreht sich um Social-Media-Plattformen wie Tiktok und Instagram, weil ich täglich als Sozialarbeiter sehe, wie wichtig die sozialen Medien für junge Menschen sind und was für einen Stellenwert sie in ihrem Leben haben. Gleichzeitig bekomme aber auch mit, dass es bei ihnen aber auch zu einer gewissen Vereinsamung führt, weil die Menschen nicht mehr miteinander reden, sondern nur noch übers Display miteinander kommunizieren. All das sind Themen, die im Alltag um mich rum sind und mich so oft beschäftigen, dass ich beschlossen habe, einen Song darüber zu schreiben.
Neben den einfacheren und Herzschmerz-Themen, gibt es aber auch politische Dinge, die mich dazu bewegen, einen Song zu schreiben. „Blut auf dem Asphalt“ zum Beispiel. Das ist ein Track, der mich sehr, sehr bewegt hat. Alle Themen, die du bei Engst findest, sind Dinge, die mir wirklich nahe gehen. Ich setz‘ mich nicht hin und sage „Oh, was wäre jetzt ein gutes Thema, über das man mal schreiben kann?“ Es gibt natürlich viele Bands, gerade im deutschen Punkrockbereich, die über Politik schreiben. Das haben wir auf den letzten Platten auch gemacht. Aber nur, weil es für uns zu dem Zeitpunkt ein Thema war. Ich setze mich aber nicht hin und sage, dass wir jetzt unbedingt einen Song gegen Nazis schreiben müssen, damit wir bestimmte Klischees erfüllen.
Die Themen der Alben spiegeln das wider, was bei uns in der jeweiligen Phase des Albumprozesses passiert ist. Wenn ich jetzt zum Beispiel ein Album schreiben würde, würde ich wahrscheinlich einen Song schreiben, der sich noch intensiver mit dem Thema Rechtsradikalismus beschäftigt, weil ich gerade heute die Wahlergebnisse der AfD gesehen habe und direkt kotzen konnte. Aber das sind immer Momentaufnahmen und ich versuche dann wirklich über die Dinge zu schreiben, die mich in dem Augenblick des Schreibens beschäftigen.
Frontstage Magazine: Würdest du sogar so weit gehen und es als eine Art Selbsttherapie bezeichnen?
Matthias: Absolut. Dafür ist die Musik ja auch da. Das ist ganz viel von der Seele schreiben. Das ist ganz viel Druck ablassen als eine Art Ventil. Aber ganz, ganz oft auch ein Hilfeschrei – das ist so alles. Gerade, wenn man sehr autobiografisch Musik schreibt, hat das immer was von Therapie und tut auch gut. Nach dem Motto: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Das Schöne daran ist, wenn man dazu positive Rückmeldungen bekommt, dass man mit seiner Ansicht, seinen Problemen, Ängsten und Sorgen nicht alleine ist, sondern dass es anderen genauso geht. Das gibt einem unfassbar viel.
Frontstage Magazine: Eure Musik hat oft auch eine bemerkenswerte Massenkompatibilität und spricht ein breites Publikum an, das weit über das Punkrock-Genre hinausgeht. Wie gelingt es euch, diese Vielfalt an Hörer*innen anzusprechen, während ihr dennoch euren eigenen unverkennbaren musikalischen Stil beibehaltet?
Matthias: Ich glaube, Musik für die breite Masse zu machen, funktioniert über den Sound. Wir sind, bei allen Produktionen und von Anfang an, im selben Studio, unser Gitarrist spielt eine Telecaster-Gitarre, was eigentlich nicht so typisch für den Punk-Rock-Sound ist. Wir haben kein Umpa-Umpa und keine schnellen Beats, sondern unser Sound ist schon sehr Pop-Rock. Ich glaube, das macht auch viel aus, die Abwechslung zwischen hart und weich. Wobei man sagen muss, dass sich der Mainstream heutzutage schon verändert hat. Harte Rockbands werden heute im Mainstream viel mehr gesehen und sind dort viel mehr angekommen, als vielleicht noch vor zehn, fünfzehn Jahren. Das sieht man an Bands wie Rammstein, Die Toten Hosen oder Die Ärzte. Das ist alles Mainstream geworden – und das ist auch in Ordnung.
Das Wort Mainstream ist für mich auch nicht so negativ behaftet. Ich glaube, dass wir so authentisch bei der Sache bleiben können, geht eigentlich über unsere Charaktere, weil es schon ein Unterschied ist, ob du das, was du machst, ein bisschen als Rolle spielst, von der Bühne gehst und es einfach abschüttelst. Oder ob du es lebst. Und wir leben es halt. Es steckt auch teilweise so viel Selbstaufgabe in dieser Band, weil wirklich alles hinten ansteht. Und dadurch liebt man das, was man macht, auch so krass. Ich glaube, das ist auch das, was uns von anderen Bands unterscheidet. Es gibt einen guten Satz, der mir mal gesagt wurde und über den ich mich gerade auch noch mit anderen Künstlern gesprochen habe: „Es muss wehtun“. Erst dann hat man eine Chance, mit einer Band erfolgreich zu sein. Denn an diesem Punkt hören ganz viele auf. Wenn es finanziell keinen Sinn mehr macht, wenn dein Privatleben darunter leidet, wenn es rational gesehen alles ganz großer Quatsch ist. Da musst du weitermachen. Wenn du diesen Punkt überschreitest, kann es etwas werden und wird auch etwas Besonderes. Bei uns tut es schon lange weh, sagen wir mal so.
Frontstage Magazine: Du hast das Thema gerade so schön angeschnitten: In „Irgendwas ist immer“ geht es auch um Authentizität. Wie wichtig ist es für dich, in deiner Musik und in deinem Leben authentisch zu sein?
Matthias (schmunzelt): Das war letztens auch noch Thema bei mir. Ich manage nebenbei auch noch eine Band und sage ihnen immer wieder, wie wichtig es ist, den Kontakt zur Basis nicht zu verlieren. Heißt für mich, nicht nur „Rockstar“ auf der Bühne zu sein, sondern auch Fan zu bleiben. Ich gehe auch oft zu Bands in den Moshpit und erlebe selbst Fanboy-Momente. Beim Taubertal-Festival bin ich nach unserer Show schnell von der Bühne gerannt und direkt zu The Baboon Show gestürmt. Selbst nach einer Stunde auf der Bühne haben meine Freundin und ich noch eine Stunde im Moshpit abgezappelt.
Danach habe ich mich dann noch mit der Band unterhalten und hatte einen richtigen Fanboy-Moment, weil ich sie einfach toll finde. Aber das ist auch das, was dich ausmacht, dass du nicht auf deinen Rider Champagner und dies, das, Ananas schreibst. Ich kann dir sagen, dass in unserem Rider steht, dass wir uns einen Wasserkocher, eine Dusche mit warmem Wasser und eine Toilette, die nicht für das Publikum zugänglich, wünschen. Das sind meine drei Rockstar-Allüren, die ich mir nach sieben Jahren Bandgeschichte hart erarbeitet habe. (lacht) Ganz ehrlich: Als Sänger einer Rockband solltest du nicht so drauf sein. Du solltest den Kontakt zur Basis und den Fans nicht verlieren und du solltest es eben auch nicht als selbstverständlich ansehen, dass Leute auf einem Festival um 15 Uhr bei 40 Grad im Schlamm bei dir vor der Bühne stehen. Ich glaube, das macht eine ganze Menge aus, authentisch zu bleiben. Deshalb wohne ich auch noch in meiner Plattenbauwohnung in Hellersdorf-Marzahn und arbeite als Sozialarbeiter. All das bringt mich nach einer Tour auch auf den Boden der Tatsachen zurück – und das ist auch gut so.
Natürlich tragen auch meine Familie, meine Freunde und meine Freundin ihren Teil dazu bei. Vor allem gehören sie alle nicht zu den Menschen, die zu den Arschkriechern gehören. Du kannst dir ja vorstellen, je erfolgreicher du wirst, desto mehr Leute wollen plötzlich deine Freunde sein. Leute, die dich am Anfang mit dem Arsch nicht angeguckt haben, wollen jetzt auf jeder Party einen mit dir trinken. Deshalb ist es wirklich wichtig und auch verdammt wertvoll, Leute um sich zu haben, die dich auch auf dem Boden halten, damit du nicht durchdrehst und kein Arschloch wirst.
Frontstage Magazine: Neben autobiografischen Songs gibt es auf eurem neuen Album „Irgendwas ist immer“ auch politische und soziale Themen, wie zum Beispiel in „Blut auf dem Asphalt„. Warum war es euch wichtig, solche Botschaften in eurer Musik zu teilen?
Matthias: Ich habe den Song geschrieben, weil es mir sehr wichtig ist, auf Missstände in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Viele Leute werden einfach nicht gesehen. Und für Leute, die nicht gesehen werden, erhebt auch niemand eine Stimme. Ich wohne im Osten Berlins und das Thema Obdachlosigkeit gab es eine lange Zeit nicht, weil wir ein sozial schwacher Bezirk sind. Die Leute haben bei uns nicht gebettelt, weil die Leute, die da wohnen selber keine Kohle haben und es deshalb keinen Sinn gemacht hat, zu betteln. Nach Corona war das plötzlich ein Thema. Auf einmal lagen auch bei uns in den Banken Obdachlose und wir haben abends auch oft Gewalt gegen Obdachlose erlebt.
Mit dem neuen Sänger von Slime hat sich das Thema noch weiter verstärkt. Tex Brasket kenne ich noch aus der Zeit, in der wir zusammen im Jugendclub Musik gemacht haben. Er war selbst eine Zeit lang Straßenmusiker und Obdachloser. Ich war nie ein Slime-Fan, weil sie mich nie abgeholt haben. Als ich die neue Platte von Slime hörte, wusste ich noch nicht, dass Tex der neue Sänger von Slime ist. Die Platte hat mich ultra krass bewegt, weil es in den Texten viel um Obdachlosigkeit und Dinge von der Straße geht. Erst später, als wir zusammen auf einem Festival gespielt haben, stand er plötzlich vor mir und ich realisierte, dass er der neue Sänger von Slime ist. Dadurch ist das Thema immer wieder in meinen Kopf gekommen und durch die letzte Platte von Slime habe ich viel bewusster in den Straßen von Berlin auf das Thema geachtet. Genauso wie das Thema Altersarmut.
Ich habe jeden Tag unfassbar viele alte Leute vor der Tür, die Flaschen sammeln, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das kann einfach jedem passieren. Genau darum geht es ja auch in unserem Song: Er hatte Träume, er hatte ein Haus, Kinder und so weiter. Ich habe selber in der Psychiatrie gearbeitet und dort meine erste Ausbildung gemacht. Da gab es Leute, die auch obdachlos waren und dadurch auch Psychosen entwickelt haben. Viele von denen hatten gestern noch ein ganz normales Leben. Wir denken immer, das passiert uns allen nicht, aber man muss nur einmal falsch abbiegen. Das haben wir im Ahrtal ja auch gesehen: Aus dem Nichts steht dein Leben auf dem Kopf und deine Existenz ist zerstört.
Um auf die Frage zurückzukommen: Ich glaube, dass solche Themen, wenn sie einen ernsthaft beschäftigen, dazu beitragen können, diesen Menschen eine Stimme zu geben und draußen für solche Themen sensibilisieren. Wir haben das auf unserem letzten Album mit „Alle tragen schwarz“ gemacht. In dem Song ging es um Suizid bei Jugendlichen in der Schule. Auf der neuen Platte widmen wir uns Themen wie Obdachlosigkeit, Altersarmut und zeigen, wie schnell das passieren kann. Seien wir mal ganz ehrlich – und da nehme ich mich bewusst mit rein: Wir schauen oft peinlich berührt weg, weil wir denken, dass wir nicht jedem fünf Euro geben können. Dann sind wir am Ende ja selbst arm. Aber obwohl wir das wissen, schämen wir uns dafür, einfach weiterzugehen. Gerade deshalb ist es so wichtig, diesen Leuten eine Stimme zu geben, um zu zeigen, dass sie da sind und nicht unsichtbar werden.
Frontstage Magazine: Neben diesen ersthaften Themen enthält euer neues Album aber auch humorvolle Tracks wie „Nie wieder Alkohol … vielleicht„. Gibt es eine Grenze, die ihr in eurer Musik nicht überschreiten würdet, oder glaubt ihr, dass Kunst keine Grenzen haben sollte?
Matthias: Es ist schwierig, das pauschal zu beantworten. Ich glaube, es gibt schon Grenzen. Diese Grenzen würde ich dort ziehen, wo Songs so interpretiert werden könnten, dass sie Menschen ausschließen oder ihnen ein ungutes Gefühl vermitteln. Natürlich gibt es immer Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und Deutungen, das ist ein Teil der künstlerischen Freiheit. Aber unsere Songs sollen Brücken bauen und keine Mauern. Sobald ich Menschen damit ausgrenze oder ihnen ein schlechtes Gefühl gebe – und das vielleicht sogar gezielt, um zu provozieren – wäre es für mich problematisch. Natürlich gibt es Künstler, die bewusst provozieren, um zu polarisieren. Wenn man das aktuelle Geschehen mal ausklammert, sieht man das auch bei Persönlichkeiten wie Lindemann und Co. Das kann natürlich auch einfach sehr provokantes Marketing sein. Ich glaube aber schon, dass Kunst vieles darf und mit viel Erklärung sogar noch ein bisschen mehr darf.
Dennoch finde ich es aber nicht richtig, wenn sich Künstler unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit alles rausnehmen, insbesondere wenn es Menschen direkt angreift oder verletzt. Viele Künstler werden mir da vielleicht widersprechen, aber meiner Meinung nach sollte es gewisse Grenzen geben, die die Kunst nicht überschreiten darf. Wenn wir uns uneingeschränkte Freiheit erlauben, würde das bedeuten, dass wir uns als Künstler auf eine Sonderstufe stellen, was ich für problematisch halte. Nur weil ich den Titel Künstler trage und ein bisschen Musik mache, habe ich doch noch lange nicht das Recht, über bestimmte Dinge anders zu sprechen als andere. Ich denke, es ist wichtig, sensibel zu bleiben und sich nicht in einem Komplex zu verlieren, der behauptet, dass ich über alles schreiben darf. Da sind wir wieder beim Thema von vorhin: Mit so einer Haltung kann man leicht den Bezug zur Realität verlieren und das kann irgendwann ziemlich gefährlich werden.
Frontstage Magazine: Du bist nicht nur Musiker, sondern auch Sozialarbeiter in einem Berliner Jugendclub. Wie beeinflusst deine Arbeit mit jungen Menschen deine Musik und umgekehrt?
Matthias: Tatsächlich ist der Beruf des Sozialarbeiters, gerade im Jugendzentrum, sehr ähnlich zu dem des Musikers. Als Musiker, als jemand, der auf der Bühne steht und eine Stimme hat, bist du im Grunde genommen dasselbe. Du versuchst, den Menschen, unabhängig von ihrer Altersgruppe, etwas Wertvolles fürs Leben mitzugeben und mit deiner Musik nicht einfach nur helles Entertainment zu betreiben.
Da sind wir bei Engst unfassbar stolz drauf, im Laufe der Jahre eine Fanbase aufgebaut zu haben, die sehr speziell ist. Du siehst auf einem Engst-Konzert Muttis, die mit ihren 9-jährigen Töchtern da sind, genauso wie 70-jährige Altrocker, Metal- und Hip-Hop-Fans, Punk-Rocker und Schlager-Fans – irgendwie haben wir von allem etwas dabei: Und am Ende des Tages haben alle Menschen trotzdem dieselben Probleme. Das können die alltäglichen kleinen Sorgen sein oder auch die großen Sorgen des Lebens.
In beiden Berufen tun wir um Grunde dasselbe: Wir kommunizieren mit Menschen und suchen Wege, um ihnen Orientierung zu geben. Nur weil du Sozialarbeiter bist, bedeutet das nicht, dass du die Wahrheit mit Löffeln gefressen hast. Ich versuche immer, in meiner Arbeit authentisch zu sein. Ich werde niemals vor meinen Kiddies stehen und ihnen predigen, dass sie nicht rauchen oder keinen Alkohol trinken sollen. Das wäre Schwachsinn. Ich selbst habe mir mit 14 die Hucke voll gesoffen und geraucht wie ein Schlot. Trotzdem hat es mich irgendwo hingeführt. Ich hatte nur das Glück, dass ich Sozialarbeiter um mich rum hatte, die mich ähnlich erzogen und mir immer die Konsequenzen aufgezeigt haben. Sie haben mir gesagt, dass ich alles machen kann und sie mich nicht bevormunden. Ich sollte nur abwägen, wohin ich in meinem Leben möchte.
Frontstage Magazine: Mit eben diesen beiden Rollen geht auch eine gewisse Verantwortung gegenüber verschiedenen Gemeinschaften einher. Wie schaffst du es, diese beiden Aspekte deines Lebens in Einklang zu bringen?
Matthias: Aus professioneller Sicht muss man eine gewisse Grenze haben. Das nennt sich in der sozialen Arbeit auch oft „Professionelles Distanzieren“. Da sind wir wieder beim Thema authentisch sein. Das gelingt mir auch mal besser und mal schlechter. Manchmal dürfen meine Kiddies länger bleiben oder wenn jemand am Wochenende Stress hat und ich frei habe, kommt es auch mal vor, dass ich mit denen telefoniere, obwohl ich eigentlich Feierabend habe. Aber im Bandkontext und mit den Fans hast du das auch. Dann bekommst du eine Nachricht von einer Person, die du eigentlich ignorieren solltest, aber ihr am Ende eben manchmal doch schreibst. Genauso ist es mit den Hatern im Internet. Auch bei denen sollte man die professionelle Distanz wahren und auch da ist es mir schon passiert, dass ich nach drei Whiskey eine böse Nachricht zurückgeschrieben habe. Das passiert. Aber man ist eben auch Mensch und kein Montag-bis Freitag-Künstler, der nach der Show alles stehen und liegen lässt, sondern man teilt so viel mit den Leuten, dass es echt und authentisch ist. Aber vielleicht ist es auch genau diese Nuance, die uns für viele Leute so interessant macht.
Frontstage Magazine: Ja, das kann ich mir auch sehr gut vorstellen. Mit all den emotionalen Berg- und Talfahrten, von denen „Irgendwas ist immer“ erzählt: Gibt es eine bestimmte Botschaft oder ein Hauptthema, das du den Hörer*innen vermitteln möchtest?
Matthias: Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass die Leute mehr miteinander reden, einander mehr akzeptieren und nicht lediglich symbolische Gesten wie das Schwenken von Regenbogenfahnen und Naziflaggen auf Konzerten zeigen. Stattdessen sollte ein offener und ehrlicher Austausch zwischen den Leuten stattfinden, bei dem sie Grenzmauern einreißen und nicht jeden gleich vorverurteilen. Nicht jeder, der ein Freiwild-T-Shirt trägt, ist auch automatisch ein Nazi. Die Leute sollten mehr Verständnis füreinander entwickeln und sich viel eher fragen, warum Leute handeln, wie sie gerade denken und handeln. Ich glaube, dann würden wir nicht nur in der Kunstszene besser dastehen, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt. Und das ist auch der Tenor unserer neuen Platte. Es geht mehr um die kleinen zwischenmenschlichen Themen und darum, dass wir alle die gleichen Probleme haben. Auf den Platten davor waren es eher die großen globalen Weltprobleme.
„Irgendwas ist immer“ soll die Leute dazu anregen, vor ihrer Haustür anzufangen, ehe sie die Welt retten wollen oder ihr erklären wollen, wie das Leben richtig funktioniert. Es bringt nichts, in einem Shitstorm irgendwas in die Kommentare zu schreiben. Ich habe noch niemanden erlebt, der durch Hasskommentare in den sozialen Medien seine Meinung geändert hat. Stattdessen sollten die Menschen auf einen konstruktiven Austausch setzen und miteinander sprechen. Unser Wunsch ist es, mit unserer Musik die Menschen für mehr Offenheit zu sensibilisieren und Brücken statt Mauern zu bauen.
Frontstage Magazine: Das hast du sehr schön in Worte gefasst. Lass‘ uns doch gegen Ende unseres Gesprächs nochmal einen kleinen Blick in die Kristallkugel wagen: Wie sieht die Zukunft für Engst aus? Gibt es bereits Pläne für kommende Projekte oder Tourneen?
Matthias: Im Moment ist es sehr spannend. Der Festivalsommer liegt hinter uns und es war ein überschaubarer, aber sehr, sehr schöner Festivalsommer mit wirklich tollen Festivals. Doch das Beste steht uns noch bevor: Unsere neue Platte wird am 20. Oktober veröffentlicht und der Vorverkauf für unsere Tour läuft schon sehr gut. Außerdem bringen wir mit dem Album unsere erste richtige Fanbox raus. Das ist für uns ein absolutes Highlight, weil sie mit sehr liebevollen Sachen bestückt haben. In der Box sind: Eine Fahne, ein Aufkleber, ein Aufnäher und ein Plektron. Darin steckt einfach so viel Arbeit und sehr viel Herzblut. Ein weiteres Highlight der Fanbox ist ein USB-Strick, auf dem eine halbstündige Dokumentation über die Band Engst zu finden ist. Wir haben die Dokumentation selbst gedreht und sprechen darin unter anderem über das neue Album und die Entstehungsgeschichte der Band. All das ist Material, das es bisher so noch nicht online gab sowie viele Handyaufnahmen von der Tour. Wer das gesehen hat, versteht uns, glaube ich, schon ziemlich gut.
Und im November gehen wir auf Tour. Das wird natürlich mega aufregend, weil wir sehr, sehr viel Neues spielen und alte Songs neu interpretieren werden. Wir wollen, dass die Leute, die zu uns auf Tour kommen, auch viel Neues erleben. Auch die Engst-Fans, die uns diesen Sommer erlebt haben, sollen etwas Neues geboten kriegen. Das wird natürlich durch die Songs vom neuen Album passieren, aber auch durch Akustik- und Klavierversionen. Das wird sehr, sehr spannend. Die Verkaufszahlen sehen momentan auch sehr gut aus. Wir hoffen, dass sie weiterhin so positiv steigen. Wir sind gespannt auf das Jahresresümee. Wenn es nach mir ginge, könnten wir nächstes Jahr direkt weiter touren und direkt ´ne neue Platte machen. Ich bin gerade in einer total kreativen Phase mit vielen neuen Ideen, dass ich vor Energie fast explodiere. (lacht)
Ansonsten stehen bei uns noch Videodrehs an und vor dem Release werden noch zwei Singles veröffentlicht. Kleiner Spoiler am Rande: Der emotionalste Song der neuen Platte wird der Song „Kopf hoch“ sein. Es ist ein krasser Song, der nicht zuletzt deshalb so emotional ist, weil unser Schlagzeuger die Instrumentals geschrieben hat. Das Besondere an der neuen Platte ist auch, dass alle vier Musiker an den Instrumentals gearbeitet haben, was es bei den Vorgängeralben bei uns so in der Form noch nicht gab.
Und ganz vielleicht gibt es als besonderes Highlight zum Jahresabschluss noch eine kleine Überraschung. Es stehen uns in der nächsten Zeit also noch ein paar aufregende Dinge bevor, auf die ich mich sehr freue.
Frontstage Magazine: Ich danke dir sehr für die interessanten Einblicke zu eurem neuen Album und dem, was in nächster Zeit noch kommen wird. Zum Abschluss möchte ich mit dir gerne noch ein bisschen kreativ werden und deine Spontanität mit drei inspirierenden Wunderfragen herausfordern: Wenn du über Nacht die Superkraft hättest, den Musikgeschmack aller Menschen auf der Welt zu beeinflussen, dann…
Matthias: …würde ich sie zwingen, das neue Engst-Album zu kaufen – Ist ja wohl klar. Man muss ja auch mal egoistisch sein und kann nicht den ganzen Tag die Welt retten. (grinst)
Frontstage Magazine: Wenn eure Musik der Soundtrack eines Hollywood-Blockbusters sein könnte, …
Matthias: …dann muss es irgendwas mit Keanu Reeves sein, weil ich ein riesen Fan von ihm bin. Hauptsache Keanu Reeves ist mit dabei, ansonsten ist mir alles egal. (gringst)
Frontstage Magazine: Wenn Engst den Vorsitz der AfD im Lotto gewinnen würde,…
Matthias: …dann würden wir auf jeden Fall erstmal ein paar Mitarbeitergespräche führen (lacht).
Lustig, dass du die AfD ansprichst. Kleine Sideanekdote am Rande: Wir waren mit Betontod auf Tour und standen mit unserem Tourbus unterwegs draußen an einer Raststätte. Unser Bassist Chris und ich wollten uns in der Tankstelle einen Kaffee holen, als plötzlich Gauland vor uns steht. Chris hat gerade irgendwelche Blödmannsbrillen aufprobiert als ich – vielleicht schon ein bisschen angenascht – zu ihm rüber schrie: „Ey Chris, kieck mal der Nazi-Opa von der AfD steht hier!“ Gauland hatte eine Security-Frau dabei, wie man sie sich vorstellt: Zwei blonde Zöpfe im Anzug, so eine richtige Heidi. Die raunte uns dann nur an: „Also wenn ihr Probleme haben wollt – draußen steht unser Sicherheitsteam.“ Dann habe ich rausgeguckt und zwei so Pisser an einem BMW sah. Wir waren wie gesagt mit unserem Nightliner da, an dem zwölf besoffene Musiker standen. Dann meinte ich nur zu ihr, sie soll mal ihre Fresse halten und zeigte auf unseren Bus. Das war ein so absurder Moment, weil die Kaffee-Verkäuferin eine Person mit Migrationshintergrund war und das Spektakel tierisch abfeierte. Als wir wieder draußen waren, haben uns einen Spaß draus gemacht und vor dem Bus ganz in Ruhe unseren Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht. Gauland und Konsorten sind so lange nicht rausgekommen, bis wir weg waren, weil sie Schiss hatten, dass wir bei der Antifa anrufen und `ne Standortanalyse in die Wege leiten. Das war echt eine mega lustige Situation.
Es gibt übrigens auf Amazon eine Dokumentation über die AfD, die wirklich großartig ist. Ich habe sie mir angeschaut, weil die AfD ein unabhängiges Filmteam beauftragt hat. Die haben 2019 mit dem Filmen angefangen, weil die AfD sich ein besseres politisches Image geben wollte. Eben weg von diesem krassen Extremismus und Rechtsradikalismus. Interessanterweise wurde die Doku von freien Kameraleuten gedreht, die alles gefilmt haben, was sie filmen durften. Das Ding ist so krass in die Hose gegangen, weil du wirklich Szenen siehst, wo jemand von der AfD auf dem Brandenburger Marktplatz steht und betonen, dass sie bürgernah sind und sich von Neonazis distanzieren. Im gleichen Moment siehst du aber jemanden mit Deutschlandhosenträgern, der Hitler brüllt. Wenn du dir die Doku anschaust, kannst du kaum glauben, dass jemand wirklich so ein Drehbuch geschrieben hat. Das ist echt großartig.
In einer anderen Szene siehst du einen von der jungen AfD, der seine erste Rede in Kreuzberg bei einem Autokorso zu Corona-Zeiten hält. Er wurde natürlich ausgebuht, fing neben seiner AfD-Mutti an zu heulen, hat sein Mikro weggeworfen und sagte trotzig: „ich mach das hier nicht mehr!“. Es ist echt traurig, aber es zeigt auch, dass nicht jeder AFD-Wähler oder jeder, der bei der AFD ist, zwangsläufig ein Nazi ist. Es gibt wirklich Leute, die frustriert und desillusioniert sind. Natürlich schützt Dummheit vor Strafe nicht. Aber per se zu sagen: „Du bist ein AFD-Wähler oder sympathisierst mit ihnen, verpiss‘ dich“, macht die Gesellschaft auch nicht besser.
Auf unseren Konzerten ist es ähnlich. Wir haben ein paar Songs gegen Nazis, aber ermutigen unsere Fans auf unseren Konzerten nicht „Nazis raus“ zu brüllen, weil auf unseren Shows keine Faschos sind. Stattdessen ermutigen wir sie, sich zu solidarisieren und sich mit anderen auszutauschen. Wir ermutigen sie, die Bullen zu rufen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Es geht nicht darum, in heiklen Situationen einzugreifen – das ist oftmals auch einfach viel zu gefährlich. Sie sollen nur zeigen, dass sie es nicht einfach still hinnehmen, wenn so eine Scheiße passiert. Das finde ich persönlich ganz, ganz wichtig.
Frontstage Magazine: Lieber Matthias, wir sind am Ende angekommen. Ich danke dir sehr für deine Zeit und die tiefen Einblicke rund ums neue Engst-Album und deine persönlichen Sichtweisen. Auf ganz bald auf eurer Tour. Bis dahin wünsche euch dir und deiner Bande eine wunderbare Zeit und einen fetten Album-Release.
Matthias: Ich danke dir ebenfalls und bis bald.
Fotocredit: Yuri Prinz