Alles steht zur Disposition, immer und überall. Was heute gegeben ist, nimmt morgen eine andere Form an; weniger greifbar, fast unsichtbar. Mit dieser Prämisse wurde Milliarden-Album mit dem Titel “LOTTO” versehen. Die “richtigen” Zahlen von heute sind die “falschen” von morgen. Die “LOTTO”-Songs haben ihren Ursprung in dem Begehr, etwas sagen zu wollen, das man versteht, ohne zu wissen, was es ist; eine Sehnsucht nach dem Ungewissen. Ben Hartmann und Johannes Aue agieren dabei weniger als Autoren, die Geschichten kreieren und konstruieren als vielmehr Musikmaler ihrer Erlebniswelten. Da das Leben kein Vakuum duldet, verspricht “LOTTO” verstörend schöne Bilder zu entdecken. Wie das Werk bei unseren Redaktion abschneidet, lest ihr in der Review.
Im Kontext des Albumtitels soll Musikmachen als Glücksspiel betrachtet werden und so wird wieder gezockt. Ob man dabei gewinnt oder verliert steht nach neun Titeln plus Zusatzzahl fest. Der Einstieg ins Album wird „Das erste Mal“ gemacht, welches nach einem kurzen Intro, die Erinnerung an ein kindliches, unbefangenes Selbst in den Mittelpunkt stellt. Im harten Kontrast zum stressigen Alltag, aus dem die Hörenden kommen, wirkt es beinahe schon utopisch und setzt damit clever einen Rahmen für das Album, in dem Fantasie und Emotionen möglich sind, als würde man es das erste Mal machen. Apropos das erste Mal: Nach dem ersten Mal hören konnte man sagen, dass man die Songs grundsätzlich mag und viel Milliarden in ihnen erkennen konnte. Führt man sich das Werk öfter zu Gemüte, findet man bei jedem neuen Hören, einen vorher unbemerkten Clou im intelligenten Text, sodass die Lieder immer spannend bleiben.
Während „Halt mich fest“ unaufgeregt in die Kategorie „Klassisches Liebeslied“ sortiert werden kann, markiert „Deine Musik“ das erste große Highlight von „LOTTO„. Der Track ist einer, in dem es an nichts fehlt und der wunderbar im Soundtrack zum Kinofilm des eigenen Lebens spielen könnte. Das Lied bietet viel Identifikationsspielraum und wirkt beflügelt, nahezu jugendlich, wodurch es emotional komplett abholt. Über das rockigere „Mantel„, was sehr viel tiefer ist, als es auf den ersten Blick wirkt, wird mit Rabaukengitarren und Tempo in eine „Psychose“ übergeleitet – Storytelling at its best. Zunächst fühlt man ein beklemmendes Gefühl, doch dann ist da trotz allem eine unerwartete und vor allem unerschütterliche Hoffnung, dass auch die schwarzen Tage vorüberziehen können.
Das folgende „Ach Andi ach“ ist das, was man als typischen Milliarden-Song mit einem einprägsamen Refrain verstehen würde. Die Songs Nummer 7 und 8 betonen die Vielseitigkeit der Band. Eine wunderschöne Klavierballade steht gegen ein Post-Punk-Manifest, wie es im Buche steht. Dabei ist das erste Lied zum Mitträumen, und das zweite Lied zum Mitschreien. Zu letzterem lädt Bens charismatische Stimme sowieso immer wieder ein. Zudem bilden die letzten beiden Tracks eine Einheit, die zusammen ruhiger aus dem Album herausbringen; immerhin zählen beide Tracks zusammen knappe zehn Minuten Spielzeit. Zum Abschluss lernt man eine weitere, hauptsächlich auf Instrumenten basierte, Seite von Milliarden kennen. Es ist gut und richtig, dass sich die Band dabei Zeit nimmt, um einen runden Abschluss zu zaubern.
Nach dem Album steht der Lottogewinn, doch nicht aus Geld, welches nur als Abfallprodukt von Arbeit verstanden wird, sondern als die Lust aufs Ungewisse. Mit klugen Texten, der eindrücklichen Stimme sowie passendem Storytelling kreiert die Band genau das, was sie sich wünscht. Man nimmt sich unwillkürlich vor, dass das eigene Leben, mit all den Emotionen und auch all dem Schmerz, wieder ein bisschen mehr wie zum ersten Mal mit „Sternenflimmern aus der Traumkanone“ sein soll und diese Erkenntnis bleibt unbezahlbar.
Fotocredit: Christoph Voy