Solche Momente gibt es nur noch selten. Vor ein paar Wochen besuchte ich im Rahmen des Kiezkultur Festivals in Hannover eine Urbannino Show ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wer dieser Urbannino eigentlich ist. Doch dann passierte genau das, was vor Jahrzehnten meine Musik und Konzertleidenschaft entfachte, der Auftritt eines mir gänzlich unbekannten Künstlers fegte mich komplett weg. Schon nach den ersten paar Takten war ich nicht nur dabei, ich war mittendrin. Keine zehn Minuten später sprang ich mit dem Rest des Publikums im Takt auf und ab, sang Texte mit, die ich gerade erst hörte, als wären es meine eigenen. Urbannino schaffte es, seine Songs direkt ins Herz und in die Beine zu spielen – umso gespannter war ich nun auf sein Debütalbum.
Natürlich kann man von „Noch Zehn Gute Jahre“ keine Verlängerung des Augenblicks dieses unglaublichen Konzerterlebnisses erwarten und auch der Überraschungseffekt ist inzwischen verpufft, denn in den letzten Wochen habe ich mich natürlich durch bereits erschienene Urbannino Singles und EPs gehört. Auf Albumlänge klingt das nun deutlich weniger nach Neue Neue Deutsche Welle wie die bereits bekannten Veröffentlichungen. Die Gitarre rückt mehr in den Fokus, scheppert dabei aber immer noch so herrlich, als hätte sie tausend Nächte in Hamburger Kneipen hinter sich.
Das hört man bereits im Opener „Sieben Leben”, ein Lovesong in dem Urbannino der lästernden Gesellschaft einen verschmitzten Mittelfinger entgegenstreckt. Scheiß auf die Norm, denn das Leben ist kein „Ponyhof”. Das weiß auch Shitney Bears und kommt deshalb direkt zum Überraschung-Feature vorbei. „Fiel mir nie schwer” vertont die altbekannte Klage, das am Ende des Geldes immer noch so viel Monat über ist. Und wie man Trennungen verarbeitet, erfährt man sowohl im lässigen „Traurige Bois”, als auch im „Herzbruchboogie”.
Urbanninio inszeniert sich in den Texten oftmals als eine Mischung aus sympathischem Looser, verpeiltem Slacker und Außenseiter. Die Gitarrenriffs erinnern an Kraftklub-hymnen und auch die bissige Ironie der Chemnitzer Jungs klingt bei Numern wie „Anfangen, Aufzuhören” auch mal durch. Das der Hamburger Künstler aber nicht durchweg den Schalk im Nacken sitzen hat, beweist er dann mit Stücken wie „Zum Glück”. Dieser absolut hörenswerte Key-Track befasst sich mit Themen wie Suizid, Depressionen und Selbstverletzung. So düster das Thema auch sein mag, gelingt es Urbannino hier einen positiven Vibe zu erzeugen. Und das ohne jede Albernheit oder doppelten Boden, denn „Es ist so schön, am Leben zu sein“ – was trotz all seiner Geschichten so etwas wie das Leitmotto auf „Noch Zehn Gute Jahre“ sein dürfte.
Das Album beweist sich als durchgängig eingängig und hält dennoch einen gewissen Anarcho-Vibe aufrecht. Was Urbannino auf dem Album abliefert, klingt nicht wie das Werk eines Newcomers, sondern wie das eines Musikers, der schon lange mit seinen Songs lebt. Die zu Beginn angesprochene Energie findet sich auch auf Platte, aber dennoch sollte man Urbannino nicht nur hören, sondern noch besser erleben – das Album ist großartig, aber auf der Bühne kommt Urbannino mit voller Wucht.
URBANNINO – „Ente Gut Alles Gut – Die Tour“
Ent(e)lich auf Tour
28.11. Bayreuth, Glashaus
29.11. Stuttgart, clubCANN
30.11. München, Milla
01.12. AT – Wien, Rhiz
03.12. Wiesbaden, Schlachthof
05.12. Köln, Tsunami
06.12. Berlin, Badehaus
07.12. Hamburg, Uebel & Gefährlich
Fotocredit: Paul Pokes
Review: Marc Erdbrügger