Mit „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ legen Kraftklub ein Album vor, das sich anfühlt wie ein Blick in den Spiegel – nur dass dieser Spiegel inzwischen Kratzer, Risse und Patina hat. Wo früher der jugendliche Überschwang dominierte, steht heute eine Band, die sichtbar älter, erfahrener und verletzlicher geworden ist, ohne ihren Widerstandsgeist und ihren beißenden Humor einzubüßen. Der vermeintliche „Full Circle“-Moment ist weniger nostalgische Rückschau als konsequente Weiterentwicklung: Der Sound erinnert klar an die frühen 2010er, doch das Bewusstsein dahinter ist ein anderes.
Im Zentrum von „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ steht der Tod – oder zumindest das Ende: Beziehungen, Lebensentwürfe, Illusionen. Fast die Hälfte der Songs kreist um Abschied, Vergänglichkeit und das unangenehme Gefühl, dass sich Dinge verändern, ob mensch will oder nicht. Statt dieses Thema pathetisch auszuschlachten, machen Kraftklub genau das, was sie schon immer am besten konnten: Sie übersetzen große existenzielle Fragen in zugängliche, laute, manchmal alberne, aber immer sehr menschliche Zeilen. Die Platte wirkt wie ein Versuch, eine neue Sprache für das Sterben, Altern und Loslassen zu finden – eine Sprache, die nicht in Betroffenheit erstarrt, sondern trotzdem tanzbar bleibt.
Gleichzeitig ist „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ sehr deutlich ein Album über Heimat und Verwurzelung. Chemnitz – oder eben Karl-Marx-Stadt – ist hier nicht nur Kulisse, sondern emotionaler Kern. Diese Stadt, diese Biografie, dieses Umfeld: Alles zieht sich wie ein roter Faden durch die Platte. Wo frühere Veröffentlichungen oft von Aufbruch, Eskapismus und dem Wunsch erzählt haben, „weg hier“ zu kommen, akzeptiert dieses Album, dass bestimmte Orte und Erfahrungen einen nie wirklich loslassen. Die Stadt ist nicht mehr nur Hintergrund für Riot-Romantik, sondern Schauplatz der ganzen Spannweite des Lebens: Freund*innenschaften, politische Konflikte, Burn-out, Trauer, aber auch Rausch, Liebe und stumpfer Spaß.
Musikalisch knüpft die Band spürbar an den raueren, direkten Indie-/Garage-Rock der Anfangstage an, ohne in reine Retro-Gestik zu verfallen. Im Vergleich zum Debüt „Mit K“ wirken die Arrangements weniger überdreht, dafür fokussierter. Wo damals oft alles gleichzeitig passierte – Gitarren, Shouts, Hooks, Ironie auf Anschlag – gönnen sich Kraftklub heute mehr Luft. Die neue Platte klingt kantig, aber nicht mehr jugendlich hektisch, aber mit dem Wissen darum, dass jede große Nacht einen nächsten Morgen hat.
Rückblickend fühlt sich „Mit K“ fast an wie ein vertontes Coming-of-Age in Echtzeit: wütend, euphorisch, sehr laut, manchmal auch etwas eindimensional in seiner Pose. „In Schwarz“ und „Keine Nacht für Niemand“ haben die Band sukzessive komplexer gemacht – textlich erwachsener, musikalisch etwas breiter, aber stellenweise auch glatter. Nicht jede Experimentschleife der mittleren Phase saß perfekt; manches wirkte wie der Versuch, das eigene Erfolgsrezept zu erweitern, ohne es wirklich loszulassen. „KARGO“ schließlich zeigte deutlich, dass Kraftklub aus der reinen Festival-Hymnen-Band herausgewachsen sind, ließ aber – je nach Hörender*m – auch den Eindruck zurück, dass zwischen Ambition und tatsächlicher Hitdichte ein kleiner Spalt entstanden war.
Genau in diesen Spalt setzt „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ nun etwas sehr Spannendes: Es vereint die Direktheit der frühen Platten mit der Nachdenklichkeit der späten – und wirkt dadurch geschlossener und ehrlicher als vieles, was die Band zuvor gemacht hat. Statt zwanghaft „größer“ oder „moderner“ zu klingen, besinnt sich das Album auf das, was Kraftklub ursprünglich stark gemacht hat: zugängliche, schnörkellose Hooks, Gitarren, die nach verschwitzten Clubs und nicht nach Playlist-Optimierung klingen, und Texte, die nah an der Lebensrealität ihrer Hörer*innen sind. Nur dass diese Realität mittlerweile mehr Grautöne kennt.
Ein wichtiger Baustein dieser neuen Ernsthaftigkeit sind die Gäst*innen auf der Platte. Die Feature-Riege liest sich wie ein Querschnitt durch die aktuelle deutschsprachige Pop- und Indie-Landschaft und ist klug gewählt, weil sie nicht bloß Namen stapelt, sondern die Perspektive auf das Album erweitert.
Domiziana bringt in den beiden Rahmensettern „Unsterblich sein ()“* und „Unsterblich sein (†)” genau das mit, was Kraftklub an dieser Stelle brauchen: eine Stimme, die zwischen Pop-Sensibilität, Club-Ästhetik und melancholischer Härte changiert. Zwei Versionen die nicht unterscheidlicher und doch so gleich sein könnten. Sie klingt gleichzeitig verführerisch und abgeklärt, etwas distanziert und doch sehr präsent – ein spannendes Gegengewicht zu Felix Kummers unverwechselbarer Mischung aus Sprechgesang, Slogan und emotionalem Ausbruch. Dass sie sowohl im aufbrausenden Anfang als auch im reduzierteren Gegenstück am Ende auftaucht, verstärkt den Bogen, den das Album schlägt: vom euphorischen Gefühl der Unsterblichkeit hin zur ernüchterten Erkenntnis der Endlichkeit. Domiziana fungiert dabei fast wie eine zweite Erzähler*in, die subtil andere Akzente setzt und dem „Wir“ von Kraftklub eine zusätzliche Stimme zur Seite stellt. Der Song wurde im Rahmen der Kraftklub-Kiez-Tour beim Reeperbahn Festival 2025 vorgestellt. Hier unsere Infos zur Kampagne.

Faber wiederum ist als Feature eine fast schon logische Wahl: Seine Art, Schmerz, Zweifel und Selbstzerstörung mit schneidender Direktheit zu formulieren, passt perfekt zu einem Album, das sich so intensiv mit Sterblichkeit und verpassten Momenten beschäftigt. Wo Kraftklub traditionell stark im Verdichten, Vereinfachen und Schlagworten sind, bringt Faber eine andere emotionale Textur hinein – diese typisch rauchige Mischung aus Zynismus und Verletzlichkeit, die sofort eine andere Farbe ins Gesamtbild kippt. Sein Auftritt wirkt weniger wie ein Gast, sondern eher wie jemand, der die emotionale Schraube noch einmal eine Umdrehung weiterzieht.
Mit Nina Chuba holen sich Kraftklub eine Stimme dazu, die aktuell wie kaum eine andere für die Schnittstelle zwischen Pop, Rap, Internetkultur und jugendlicher Überforderung steht. Ihr Feature öffnet die Türen in eine Lebenswelt, in der Hyperpräsenz, Social-Media-Druck und Identitätssuche noch einmal anders verhandelt werden als in der Generation, aus der die Band selbst stammt. Nina Chuba bringt eine jüngere, aber nicht naive Perspektive mit – sie wirkt wie eine natürliche Anschlussfigur zu den Fans, die mit Kraftklub älter geworden sind, gleichzeitig aber auch zu jenen, die die Band vielleicht erst jetzt entdecken. Ihr Beitrag funktioniert weniger als „Star-Gast“, sondern als Dialogangebot zwischen Generationen.
Deichkind schließlich sind fast schon so etwas wie spirituelle Verwandte von Kraftklub: Beide Projekte leben von der Verbindung aus Party, politischer Kante, Übertreibung und Self-Awareness. Im Zusammenspiel bekommt die Platte einen wichtigen Gegenpol zur Schwere des Themas Tod. Deichkind bringen eine anarchische, leicht sarkastische Energie mit, die perfekt dazu taugt, das Nachdenken mit Exzess kurzuschließen. Wenn diese Crew irgendwo auftaucht, schwingt immer die Botschaft mit: Eskalation ist nicht Leichtsinn, sondern manchmal überlebensnotwendig. Auf „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ sind sie genau deshalb so wichtig, weil sie die zentrale Idee des Albums – Leben und Sterben, Rausch und Kater, Hoffnung und Resignation – noch einmal überzeichnen und dadurch greifbarer machen.
Verglichen mit früheren Platten fällt auf, wie selbstverständlich Kraftklub inzwischen mit solchen Gäst*innen umgehen. Wo Features früher eher als Ausnahme oder stilistischer Farbtupfer auftauchten, sind sie hier integraler Bestandteil der Erzählung. Die Band gibt Raum ab, ohne ihre Identität zu verlieren – ein deutliches Zeichen dafür, wie gefestigt sie inzwischen ist. Statt Angst vor Verwässerung zu haben, laden sie Stimmen ein, die ihre Themen verstärken, zuspitzen oder brechen.
Insgesamt wirkt „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ wie das Album, das Kraftklub als erwachsene Band definieren könnte. Es ist weniger unmittelbar „durchhörbar“ als „Mit K“, weniger hymnisch-over-the-top als manche Momente von „In Schwarz“ und weniger suchend als Teile von „KARGO“. Dafür ist es stimmiger, reifer und, vor allem: ehrlicher. Die Band gesteht sich zu, dass Dinge wehtun, dass man müde wird, dass die eigene Stadt einen wahnsinnig machen kann – und dass man sie trotzdem liebt.
Wer Kraftklub bislang nur als Soundtrack für Circle Pits und Festival-Nächte wahrgenommen hat, wird mit „Sterben in Karl-Marx-Stadt“ vielleicht überrascht, aber kaum enttäuscht sein. Die Platte zeigt eine Band, die nicht versucht, ewig 23 zu bleiben, sondern sich traut, ihre eigenen Brüche offenzulegen. Dass dabei immer noch genug Zeilen, Gesten und Momente entstehen, die ein ganzes Publikum zum Mitschreien bringen dürften, ist fast ein schöner Nebeneffekt. Wichtiger ist: Dieses Album fühlt sich an wie ein Zwischenstand eines Lebens, das weitergeht – mit allen Konsequenzen. Und genau deshalb ist es eines der spannendsten Kapitel in der Diskografie von Kraftklub.
Kraftklub „Sterben in Karl-Max-Stadt“ Tournee 2026:
03.03.2026 Schwerin, Sport- und Kongresshalle
04.03.2026 Münster, Halle Münsterland
06.03.2026 München, Olympiahalle
07.03.2026 AT-Graz, Stadthalle
08.03.2026 AT-Wien, Wiener Stadthalle
11.03.2026 Berlin, Max-Schmeling-Halle
13.03.2026 LUX-Luxemburg, Rockhal
14.03.2026 Düsseldorf, PSD BANK DOME
15.03.2026 Erfurt, Messe
17.03.2026 Stuttgart, Schleyer-Halle
19.03.2026 Nürnberg, PSD Bank Nürnberg ARENA
20.03.2026 Freiburg, SICK-Arena
21.03.2026 CH-Zürich, Hallenstadion
23.03.2026 Braunschweig, Volkswagen Halle
24.03.2026 Kiel, Wunderino Arena
27.03.2026 Frankfurt, Festhalle
28.03.2026 Bremen, ÖVB-Arena
27.06.2026 Dresden, Rudolf-Harbig-Stadion
29.08.2026 Hamburg, Trabrennbahn
Fotocredit: Albumcover / Artwork
Fotocredit: Livefoto von Adina Scharfenberg @Reeperbahn Festival 2025