Wie lange dauert Gegenwart? Drei Sekunden, sagt das gleichnamige Elektronikduo. Dann beginnt Erinnerung.
Mit ihrem letztjährigen Debütalbum Der Deutsche Frühling erzählten Drei Sekunden in analog-synthetischen Loops und literarischen Fragmenten von den letzten Tagen der alten BRD – zwischen Mjunic Disco, Fassbinder, Schernikau und der Melancholie queerer Erinnerung.
Jetzt erscheint ihre neue Single: darauf eine radikal reduzierte Neuvertonung von Brechts Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“
Brecht unter fremdem Himmel
Dass sich ein frühes Sturm-und-Drang-Gedicht von Bertolt Brecht mit elektronischer Musik verbinden lässt, klingt zunächst unwahrscheinlich. Und doch geschieht genau das – beinahe beiläufig, fast zwangsläufig – auf der neuen Single von den Drei Sekunden.
Es funktioniert folgendermaßen: Hier ein Gedicht über eine unerreichbare Liebe, das umso schmerzhafter wird, als es versucht, cool zu wirken – und fast genau 105 Jahre später, fast am gleichen Ort, ein unterkühlter, elektronisch minimaler Soundtrack. Das Ergebnis ist: verstörend bis großartig.
Ohne auch nur ein Wort des Gedichts zu verändern, geben die Drei Sekunden dem Song das Wissen um die vergangene Zeit mit. Brechts Wolke ist nimmer die gleiche, kann nie mehr die gleiche sein, wenn man sie wieder und wieder vom Ferienflieger aus gesehen hat. Verschwinden ist sexy, sagen die Drei Sekunden, und lassen frische Luft in das Wolkenmuseum.
Fünf Fragen an Drei Sekunden
1. Liebe Drei Sekunden, eure neue Single ist eine Neuvertonung von Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ Wie kam es dazu?
RS: Die Single ist eine klassische Doppel-A-Seite – zwei Songs, gleichwertig. Gewöhnliche Erde ist unser jüngstes Stück: ein Beinahe-Danach-Liebeslied, ein leises Nachglühen. Die Frage, was von der Liebe übrig bleibt, verbindet beide Titel. Oder anders: Wie vergisst man etwas, das man nicht vergessen will? Verschwinden ist sexy.
Das andere Stück ist unsere Neuvertonung von Brechts Erinnerung an die Marie A. – ein Gedicht, das mich seit meiner Jugend begleitet. Es passte so gut zu einem Track, an dem wir gerade arbeiteten, dass es sich regelrecht in den Song gedrängt hat – und war danach nicht mehr wegzubekommen. Wir haben dabei nicht den Song neu vertont, also kein Cover, sondern das Originalgedicht in einen neuen Zusammenhang gestellt – 105 Jahre, oder 3.313.548.000 Sekunden später. Marie A. hat für viele Ebenen, für mich persönlich, und jetzt hat sie noch eine mehr dazubekommen.
Und ehrlich gesagt: Ich bin ein langsamer Texter. Es ist eine Freude, auch mal die Texte anderer zu singen. Vielleicht wird daraus mehr.
LL: Für uns war das auch ein neuer Schritt. Bisher haben wir ausschließlich Alben gemacht – ich liebe das Format: eine Dramaturgie über mehrere Songs hinweg, wie eine Ausstellung. Aber Alben brauchen Zeit. Singles dagegen sind schnell, direkt, spontan – und das Musikformat zur Zeit.
2. Euer Debütalbum „Der Deutsche Frühling“ erschien letztes Jahr und enthält Songs über prägende Figuren der 80er: RAF, Fassbinder, Schernikau. Was fasziniert euch an dieser Zeit?
RS: Die 80er waren ein doppelgesichtiges Jahrzehnt: auf der einen Seite E.T. und dieses große, kindliche Staunen über neue technologische Möglichkeiten – auf der anderen Seite HIV als soziale und medizinische Endstation. In Deutschland war das Fassbinder, der Mauerfall, das tragische Hin und Her von Ronald Schernikau – alles Geschichten aus den letzten Tagen der alten BRD. Irgendwo zwischen Mjunic Disco und BRD Noir. Viele der Protagonisten waren schwul. Ich wollte schon damals mit unserer alten Band, den Animal Crakers, ein Album machen, das auf eine selbstverständliche, unaufgeregte Art queer ist – wie ein Film von Almodóvar.
Damals konnte ich das nicht. Heute geht es. Der Deutsche Frühling war ein Brief an mein jüngeres Ich und an die 80er selbst – ein Liebes- und Abschiedsbrief zugleich.
3. Euer Album erscheint auf dem legendären Label ZickZack. Wie kam es dazu?
LL: ZickZack ist eines der prägendsten deutschen Independent-Labels. Seit den 70ern hat es die Neue Deutsche Welle entscheidend mitgestaltet – mit Bands wie DAF, Einstürzende Neubauten oder Palais Schaumburg. Und auch später veröffentlichte es viele der interessantesten deutschsprachigen Acts. Alfred Hilsbergs musikalische Haltung passt sehr gut zu unserer.
Tatsächlich veröffentlicht auch meine andere Band, die Monostars, bei ZickZack. Das Label ist seit Jahrzehnten mein künstlerisches Zuhause.
4. Was beeinflusst eure Musik?
LL: Ich höre aktuell viel Beak und Düsseldorf Düsterboys. Ansonsten beschäftigen mich Zufallsmusik und Minimalmusik. Besonders Enno Poppe hat mich geprägt – seine Art der Klangformung ist beeindruckend. Und ich bin fasziniert von den strengen Mustern barocker Musik. Diese Repetitionen, das findet sich auch bei uns.
RS: Was ich selbst höre, hat selten mit dem zu tun, was ich mache. Das geht von Ditto (von den NewJeans) über Stephin Merritt zu Brian Eno – viele Dinge, die ich liebe, könnte ich selbst gar nicht umsetzen. Ich sehe mich nicht als Musiker – ich spiele kein Instrument auf den Aufnahmen. Ich bin Songschreiber. Ich gebe dem Song Titel, Text, Melodie, Richtung. Lenz macht die Musik. So funktioniert unsere Zusammenarbeit.
LL: Wir haben über unsere Einflüsse auch eine Sendung bei NCR Radio gemacht, da kann man einiges nachhören:
▶︎ ncr-raw.fm/podcast/drei-sekunden-alte-sachen-neue-chancen
5. Wird man euch auch live sehen können? Und wie geht es weiter?
LL: Zurzeit nicht. Aber wir arbeiten an neuen Stücken, bei denen ich mir vorstellen kann, auch live aufzutreten – wann, wie, wo: offen. Bis dahin müssen die Videos genügen.
RS: Wir arbeiten auch da nach dem Motto: Verschwinden ist sexy!
Was bedeutet eigentlich euer Name?
RS: Drei Sekunden? So lange dauert Gegenwart. Danach beginnt Erinnerung.
LL: Und nicht nur die an die Marie A
Fotocredit: Offzielles Pressebild / Artwork