Barcelona, Anfang Juni – die Sonne brennt auf den Kacheln des Parc del Fòrum, das Meer glitzert in grellem Blau, und auf den Straßen liegt Musik. Keine Frage: Primavera Sound ist zurück. Bereits zum 23. Mal verwandelt sich das weitläufige Gelände im Nordosten der Stadt in ein musikalisches Epizentrum. Seit der ersten Ausgabe im Jahr 2001 hat sich das Festival von einer Insider-Perle zu einem der bedeutendsten Treffpunkte für Musikfans weltweit entwickelt. Dieses Jahr wurde der Hype besonders deutlich: Schon am 2. Januar – fünf Monate vor dem ersten Ton – waren sämtliche Tickets restlos ausverkauft.
Bei konstant sonnigen 25 Grad, mit einer frischen Meeresbrise im Nacken und einem kühlem Getränk in der Hand, fühlte sich jeder Moment genau wie Urlaub an – selbst wenn man gerade durch das Getümmel der späten Abendstunden navigierte. Barcelona zeigte sich von seiner besten Seite: freundliche, gut gelaunte Menschen, offene Gespräche an jeder Ecke, eine ausgelassene Atmosphäre und ein Line-up, das wie ein Best-of der aktuellen internationalen Musikszene wirkte.

Das große Ganze – Zahlen eines globalen Rauschs
Primavera Sound 2025 bedeutet Superlative: 14 Bühnen erstrecken sich über das weiträumige Gelände des Parc del Fòrum – von ikonischen Open-Air-Flächen bis zu versteckten Indoor-Spots mit Club-Feeling. Über 300 Konzerte finden im Rahmen der Festivalwoche statt, davon allein mehr als 220 an den drei Haupttagen. Und das Publikum? Es kommt von überall her: Rund 290.000 Besucherinnen und Besucher aus 136 Ländern strömen in die katalanische Metropole – ein globales Publikum für ein globales Line-up.
Doch gleichzeitig ist alles geschmackvoll inszeniert: von den futuristischen Bühnenbauten bis zur Kulisse, die in den Sonnenuntergang hineinragt, während das Mittelmeer glitzert. Die Atmosphäre ist offen, freundlich, gesprächig – man hört Spanisch, Englisch, Französisch, Deutsch und vieles mehr. Das Publikum ist so bunt und international wie die Acts die hier spielen.
Apropos Line-up? Ein musikalisches Abbild der Welt: grenzenlos in Genre und Herkunft. Elektro trifft auf Country, Pop auf Punk, Indie auf Singer-Songwriter – und das alles innerhalb weniger Stunden. Es gibt keine Schubladen, keine Genregrenzen, nur Übergänge, Überraschungen und musikalische Offenheit. Wer hier spielt, passt nicht in eine Szene, sondern erweitert sie.

Die Revolut- und Estrella-Damm-Bühnen bildeten das massive Herzstück des Festivals: zwei Main Stages, die sich im Wechsel bespielen ließen, sodass es kaum Pausen zwischen den Acts gab. Die Cupra-Bühne bot mit ihren steinernen Treppenstufen nicht nur gute Sicht, sondern auch spektakuläre Sonnenuntergänge hinter dem Meer – fast schon zu schön, um nicht abzulenken. Direkt daneben lag die Amazon Music Stage, die vor allem am ersten Tag eine zentrale Rolle spielte. Etwas abgelegener, fast versteckt, lagen die kleineren Trainline- und Schwarzkopf-Bühnen,ein guter Rückzugsort vom Trubel.
Die Cupra Pulse, ehemals der Boiler Room, bot elektronische DJ-Sets in einem dreieckigen, abgeschotteten Raum – sehr exklusiv, hier kam man meist nur mit langer Wartezeit in einer noch längeren Schlange rein. Und wer sich wirklich zurückziehen wollte, fand im winzigen 501-Club mit seiner kleinen Tribüne Platz für intime Performances. Die Aperol-Insel war zwar meist überfüllt, dafür aber akustisch gut vom Ufer zu verfolgen – ideal für kleinere auch deutsche Acts wie Anaïs oder Frytz.
Andere Bühnen wie Levi’s Warehouse oder der Revolut Club blieben für uns eher nur Namen auf der Karte – man schafft einfach nicht alles. Ergänzt wurde das Programm durch Primavera Ciutat, ein kostenloses Angebot in den Clubs Barcelonas und im Kulturzentrum CCCB, sodass das Festival auch in die Stadt hineingetragen wird.

Mittwoch, 4. Juni – Opening Day “Jornada Inaugural”
Es ist der Opening Day, das Gelände ist noch nicht ganz geöffnet, aber die Stimmung ist schon da. Auf der Amazon Music Stage – temporär umbenannt zur Estrella Damm Stage – spielen drei Acts aus Spanien und Caribou aus Kanada.
Llum macht den Anfang mit glitzerndem Elektro-Pop, vielen Dance Moves und noch mehr guter Laune. Danach bringen Hinds ihren Indie-Power-Pop auf die Bühne: spaßig, eingängig – wir summen einen ihrer Ohrwürmer noch immer. Bei La Casa Azul wird es kurios: Der Sänger in Skibrille, die Band mit großen weißen Kopfhörern – optisch schrullig, musikalisch elektrisierend. Die Spanier tanzen wie wild, die Stimmung ist ausgelassen. Und dann Caribou: ein Set wie ein beruhigender Stromstoß – ruhig, doch voller Energie. Die Menge wirkt hypnotisiert. Der perfekte Einstieg.

Donnerstag, 5. Juni – Charli, CMAT & Choreos
Am ersten offiziellen Tag füllt sich das Gelände bis in den letzten Winkel. Die ersten Acts starten schon am Nachmittag. CMAT auf der Cupra Stage ist ein Erlebnis: Country, Choreografien, Cowboy-Hüte soweit das Auge reicht. Der perfekte euphorische Einstieg in den Abend – inklusive Line Dance mit der gesamten Band.
Momma auf der Trainline Stage zeigen, dass man auch mit einem leiseren Auftakt laut beeindrucken kann – rockig, rau, mit dieser besonderen Stimme, die unter die Haut geht.

Während die Sonne langsam untergeht, spielt Beabadoobee auf der Estrella Damm Stage – ihre zarte Stimme trifft auf sanfte Akkorde, perfekt für diesen goldenen Moment. Es ist süß, berührend und voll von nostalgischer Y2K Ästhetik– und dann ruft sie: „Pinky promise you are gonna jump!“ Und wir springen.
Magdalena Bay später ist eine Wucht – nicht nur klanglich. Sie inszenierten nahezu ein surreales Poptheater. Die Sängerin wechselte ständig ihre Masken, bewegte sich wie eine überdrehte Cartoonfigur durch den Nebel, während hinter ihr ein leuchtender Spiegel wie ein Portal zu einer anderen Welt wirkte. Die Musik – tanzbar, verspielt, leicht psychedelisch – war ebenso abwechslungsreich wie ihr visuelles Konzept. Ein Auftritt, der wie ein kurzer Fiebertraum wirkte, aber voller Magie war – wie aus einem anderen Universum.

FKA Twigs war vielleicht die künstlerisch ausgereifteste Performance des Festivals. Ihre Bühne: reduziert, industriell, ein Gerüst mit LED-Wand. Ihr Körper: Ausdruck pur. Mit ihren Tänzern verschmolz sie zu einem lebenden Kunstwerk aus Akrobatik, Symbolik und Verführung. Gesang und Tanz gingen Hand in Hand, ihre Bewegungen waren choreografierte Emotionen.
Charli XCX und Troye Sivan brachten als Headliner mit „SWEAT“ gemeinsam die Estrella-Damm-Bühne zum kochen. Die Tour fand eigentlich nur in Amerika statt und wurde für das Primavera einmalig wieder aufleben lassen und zum ersten Mal nach Europa gebracht, nachdem beide schon letztes Jahr ihre Solo Sets auf dem Festival preisgaben. Die Menge war außer sich – vor allem bei Charli. Das Doppelpack war ein einziges Popfeuerwerk. Troye begann mit perfekt durchchoreografierter Show, begleitet von Tänzern in knalligen Outfits. Seine sanfte Stimme, gepaart mit clubbigen Beats, riss das Publikum mit. Dann kam Charli – alleine, aber nicht weniger eindrucksvoll. Ihre Performance lebte von der Lichtshow, der Energie und der Direktheit. Die beiden ergänzten sich hervorragend, besonders bei und gemeinsam formen sie mit ihrer “SWEAT”-Show den Abend zur reinen Pop-Ekstase.
Den Abschluss bildeten Brutalismus3000 mit einem kompromisslosen Party-Set zwischen Techno und Live-Gesang – wild, laut, tanzbar.

Freitag, 6. Juni – Zwischen Euphorie und FOMO
Der Freitag beginnt punkig mit Amor Líquido und Tetas Frías, die bei brennender Mittagssonne mit (Elektro-)punk und Humor das leider noch spärlich vertretene Publikum wachrütteln.
Tramhaus steigert das Tempo noch, Post-Punk mit einem ordentlich energiegeladenen Sänger, den es kaum auf der Bühne halten kann.

Eine besondere Überraschung ist Wolf Alice: Sie springen für das abgesagte Set von Clairo ein und spielen trotz der frühen Uhrzeit vor großem Publikum. Ihre Mischung aus Ballade und alternativen Rock passt irgendwie perfekt.
Danach bringt uns der Timetable ins Schwitzen: Haim spielen gleichzeitig mit Zaho de Sagazan. Wir versuchen, beide zu sehen. Haim quatschen sympathisch drauflos, rocken mehr als erwartet.
Zaho dagegen ist ein Ereignis: mit ihrer elektrisierenden Show auf der Cupra-Bühne zu einem echten Highlight wurde – französischer Gesang, elektronische Beats, apokalyptische Ästhetik. Zaho betrat die Bühne mit einer besonderen Intensität. Ihre Musik: elektronische Soundflächen, düster, manchmal fast bedrohlich, darüber ihre kraftvolle französische Stimme. Die Show war fast wie ein apokalyptisches Ritual – mit Technik, die zischte und blinkte, und einer Künstlerin, die ohne Pause durch den Nebel tanzte. Sie wirkte sonderbar, fast schon unnahbar – aber faszinierend. Das Publikum? Komplett in ihrem Bann.

Später fanden wir heraus, dass wir durch genau diese Überschneidungen das geheime DJ-Set von Tame Impala verpassten – schmerzlich, aber irgendwie typisch für dieses Festival.
Später am Abend überzeugten Fcukers mit energetischer Live-Performance, während im winzigen 501-Club Gouge Away eine echte Hardcore-Floorshow hinlegten.

Sabrina Carpenter bringt am Abend dann Pop in Perfektion: strahlende Glitzer-Outfits, aufwändig choreografierte Tänze und witzige Showeinlagen und das komplette Bühnenbild ihrer „Short & Sweet“-Tour. Ihre Songs wurden durch kleine Comedy-Clips (Telecommercials) eingeleitet, was ihr Set charmant und besonders machte. Als sie „Man Child“ zum ersten Mal performte – mit Country-Anklängen – war die Menge begeistert. Besonders der Moment mit „It’s Raining Men“ samt Blitz und Donner war großes Popkino. Auch die Tanzeinlage zu Ginuwines “Pony” im Chorus von “Bed Chem” lässt die Menschen jubeln.
Gegen 2 Uhr morgens platzt die Cupra-Stage aus allen Nähten – Wet Leg spielen ihre neuen und alten Hits. Opener ist die gerade erschienene Single „Catch These Fists“, Wet Leg-typisch gab es wenig Ansagen, sie überzeugen lieber musikalisch. Überall sieht man Menschen, verzweifelt auf der Suche nach jedem noch so kleinen Fleck, der Sicht bieten könnte. Ein krönender Tagesabschluss.

Samstag, 7. Juni – La Gran Final
Der letzte Tag beginnt ruhig, fast meditativ: Glass Beams lassen ihre goldenen Masken in der Mittagssonne funkeln, ihre instrumentalen Klänge mit Einflüssen aus aller Welt nehmen uns mit auf die Reise.
Fontaines D.C. brachten später irischen Post-Punk mit und zeigen politische Kante mit mehr als nur einem „Free Palestine“-Statement – rockig und relevant.

Später stahl Chappell Roan mit ihrer aufwändig choreografierten, emotionalen Performance allen anderen Künstler:innen mühelos die Show. In einem spektakulären Schmetterlings-Outfit tanzte, sang und weinte sie sich durch ein energiegeladenes Set, das wie ein queerer Fiebertraum zwischen Drag-Performance, Märchenwelt und emotionaler Realität wirkte. Ihr Make-up ebenso kunstvoll wie ihr Ausdruck. Dieser Auftritt war weit mehr als ein Konzert – er war ein Statement: ein queeres Pop-Märchen voller Hingabe, Ausdruckskraft und Bühnenzauber. Zwischen den Songs sprach sie offen über Emotionen, Community und das eigene Überwältigtsein – ihre Stimme zitterte, doch sie verlor nie ihre Professionalität. Das Publikum? Von der ersten bis zur letzten Sekunde laut, textsicher, liebevoll – und ganz in ihrer Welt versunken.
Nach dieser emotionalen Glanzleistung fanden wir in Confidence Man gelungene Abwechslung. Mit ganz anderen, aber nicht minder eindrucksvollen Akzenten. Das australische Duo lieferte eine Show ab, die so überdreht wie durchchoreografiert war – ein Spektakel aus absurden Tanzbewegungen, knallbunten Visuals und elektrisierender Energie. Ihre Performance war ein einziger Ausbruch an Tanzbarkeit und Irrsinn, irgendwo zwischen 80er-Jahre-Fitnessvideo, Club-Exzess und Theaterparodie. Trotz (oder gerade wegen) der ironischen Überzeichnung blieb das Publikum in Bewegung – kaum jemand stand still, zu ansteckend war der Spaß, den Confidence Man auf der Bühne versprühte.

Und Turnstile setzen spät in der Nacht den Schlusspunkt mit einem intensiven, mitreißenden Set voller Euphorie. Erst wenige Stunden zuvor spielten sie noch ein Set in New York und trotz später Stunde war die Energie noch spürbar – ein letztes Mal gemeinsam tanzen in der katalanischen Nacht. Turnstile gaben noch einmal alles. Ihr Set fokussierte sich auf „Glow On“ und dem neuen Album “Never Enough”, das Publikum sprang, pogte und schrie – aber alles mit einem gewohnt freundlichen Vibe. Die Band war tight, der Sound druckvoll, die Lichtshow fand kaum statt. Ein starker, emotionaler und wuchtiger Abschluss für ein durch und durch intensives Festival. Wer noch am Folgetag in Barcelona verblieb konnte sich sogar noch den Film zum neuen Album anschauen.

Fazit
Das Primavera Sound 2025 war ein Kaleidoskop an Eindrücken – musikalisch divers, ästhetisch durchdacht, menschlich überraschend warm. Trotz Kommerzialisierung, überfüllter Plätze und harter Timetable-Entscheidungen bleibt das Gefühl: Hier wurde Musik nicht nur gespielt, sondern gelebt. Es war ein Fest der Vielfalt – auf der Bühne wie davor. Und vielleicht, ganz vielleicht, tanzt Barcelona immer noch ein bisschen weiter.
Ob Pop, Punk, Elektro oder Indie, ob intime Bühne oder epische Main Stage – das Festival hat gezeigt, dass gute Musik keine Grenzen kennt. Und auch wenn man nie alles sehen kann, bleibt der Eindruck eines warmen, wilden, wunderbar internationalen Musikfests am Mittelmeer, das lange nachhallt. Das Primavera Sound ist kein „mal kurz reinschauen“-Festival. Es lebt von der Planung, offenen Augen und Entdeckungsfreude. Wer sich darauf einlässt, erlebt ein mehrtägiges Musikmärchen – zwischen Meeresbrise, Elektro-Exzessen und Gitarrenriffs unter Palmen. Es ist ein kulturelles Biotop, in dem sich Subkultur und Mainstream, Queerness und Experiment, Bass und Ballade nicht ausschließen, sondern gegenseitig befeuern.
Foto Credits: Primavera Sound Festival