Irgendwann muss es passiert sein – zwischen Gitarrenverzerrer und Synthesizer, zwischen Metalbandproberaum und Edwin-Rosen-Plattenhülle. Yasin Sert, Jahrgang 2000, entscheidet sich beim Stadt ohne Meer Festival: Musiker werden. Denn das, was die da oben auf der Bühne können, das kann ich doch eigentlich auch. MilleniumKid ist geboren – oder besser: taucht auf. So, als hätte ihn jemand in einen DeLorean gesetzt, mit Zielkoordinaten zwischen Neuer Neuer Deutscher Welle und Schlafzimmermelancholie.
In den letzten Monaten hat MilleniumKid schon jede Menge Songs veröffentlicht und sich eine stetig wachsende Fangemeinde erspielt. Jetzt erscheint mit „Dystopie” das Debütalbum und wir hören viele gute alte Bekannte wieder. Songs, die uns bereits durch verschiedenste Phasen begleitet haben und das ist wohlmöglich die einzige Schwäche von „Dystopie”, es hört sich eher wie eine Sammlung von Songs und nicht wie ein Album an. Dabei hat Sert versucht seine Songs auch als Album zu denken und rahmt die einzelnen Tracks von einem fast symbolisch wirkenden Intro und Outro.
Der erste Abschnitt wirkt dabei wie eine vorsichtige Annäherung. Drei ruhige Tracks lassen Raum. Raum zum Hinhören, zum Mitdenken. Erst mit „Unendlichkeit” nimmt uns Milleniumkid mit auf die Hitreise. Ein absoluter Banger und im Anschluss öffnet sich „Dystopie” für größere Gesten: Mitsing-Refrains, melodische Breitseiten, große Gefühle. „Sommerkleid”, der Fokus-Track zum Release, ist ein gutes Beispiel dafür.
„Wie weit” und „Ich fall für dich” sind herausragend. Diese Songs suchen nicht nach makelloser Popproduktion, sondern nach emotionaler Aufrichtigkeit. Sie sind wackelig, aber genau dadurch berührend. Und auch „Vielleicht” ist dann einer dieser Tracks, der sich in einem festsetzt, ohne zu nerven.
Natürlich ist nicht alles Gold. „Horizont” fällt etwas ab – ein Filler, der auf einem sonst so stringenten Album wie eine Notiz wirkt, die man aus Versehen mitkopiert hat. Dass MilleniumKid ursprünglich aus der Metalszene kommt, hört man nicht sofort, aber man spürt es. Die innere Dringlichkeit, die Getriebenheit – sie ist da, auch wenn sie sich hinter Synthflächen versteckt. Und wenn man sich vor Augen führt, welch ein Hitfeuerwerk die B-Seite des Albums entfacht, dann kann man verstehen, dass hier viele Singles ihre Wiederaufführung erfahren. So starke Songs kann man nicht einfach nur im Digitalen liegen lassen. Die gehören auf eine Platte. Am besten auf Vinyl, welches MilleniumKid zu schwarzem Gold werden lässt.
Review von Marc Erbrügger
Fotocredit: Can Wagener