Ein Album zu besprechen, das seit fast einem Jahr draußen ist, fühlt sich erstmal ungewöhnlich an. Doch manchmal braucht gute Musik einfach Zeit, um ihre Zuhörer zu finden. ‚‚Alive”, das dritte Album der italienischen Musikerin Charlie Risso, ist eine übersehene Perle aus 2024, welche durch die Singleauskopplung „Railroad” nochmal in den Fokus geraten ist. Ein Song über die zerstörerische Kraft der menschlichen Gier, die wie eine unaufhaltsame Lokomotive über Natur und menschliche Existenz hinwegrollt. Risso verpackt diese scharfe Gesellschaftskritik in einen atmosphärischen, melodisch eingängigen Track, der sich tief ins Bewusstsein gräbt – und das gesamte Album verdient es, mit neuen Ohren gehört zu werden.
Charlie Risso ist eine Musikerin, die nicht in Schubladen denkt – und schon gar nicht in geraden Linien. Mit zwanzig verlässt sie ihre italienische Heimat Richtung London, kehrt irgendwann zurück und findet sich plötzlich auf einem schwimmenden Studio in der Toskana wieder, um „Alive” aufzunehmen. Die Einordnung ihrer Musik wird spätestens mit diesem Werk endgültig zur Übung in stilistischer Geduld. Dream-Pop? Noir-Pop? Indie? Folk? Vielleicht von allem ein bisschen, vielleicht gar nichts davon so richtig – was aber sicher ist: „Alive” fühlt sich an wie ein Filmsoundtrack für eine nie gedrehte Lynch’sche Romanze.
Der Titeltrack „Alive” schwebt mit tiefen Synth-Flächen und sanften Beats durch den Raum, während Rissomit einer Stimme zwischen entrückter Nancy Sinatra und einer träumenden Hope Sandoval singt. Ihre Art des Vortrags: kontrolliert, leicht entrückt, aber nie ohne Seele. „The Wolf” ist dann eine fast schon offensichtliche Hommage an Nick Caves Where The Wild Roses Grow, mit Produzent Hugo Race als düster grollendem Duettpartner.
Was „Alive” besonders macht, ist seine Atmosphäre. Weiche Arrangements, tiefe Räume, viel Hall – als würde die Musik auf einer Filmleinwand projiziert, statt einfach nur aus Lautsprechern zu kommen. Im Kopf entsteht dabei eine Bilderwelt irgendwo zwischen Lynch und Refn, was Risso eigentlich zu perfekten Soundtrack Lieferantin macht. Sympatisch ist vor allem, dass das Album nicht nach dem großen Hit sucht, sondern sich wie ein dichtes Netz aus Sound und Emotionen über den Hörer legt. Vielleicht fehlt hier und da der eine Song, der das Album auf ein neues Level hebt – vielleicht ist das aber auch genau der Punkt. Charlie Risso ist (noch) nicht Nick Cave, sie ist (noch) nicht Lana Del Rey, aber sie bewegt sich in diesen Welten mit einer Selbstverständlichkeit, die neugierig macht, wo ihre Reise noch hingeht.
Dass Charlie Risso musikalisch nicht stehen bleibt, beweist sie bereits mit neuer Musik in diesem Jahr: Mit „Ain’t No Grave” hat sie kürzlich einen weiteren Song veröffentlicht, der zeigt, dass ihre kreative Reise weitergeht.
Review: Marc Erdbrügger
Fotocredit: Pierluigi DeRubertis