Gestern noch in einer rappelsvollen Lanxess Arena in Köln – heute in der Dortmunder Westfalenhalle. Deichkind sind auf der „Kids in meinem Alter-Tour“. Dessen Innenraum füllt sich überraschenderweise nur langsam. Zumindest denke ich das. Ich betrete den Innenraum und bin erschrocken darüber, wie leer es aussieht und stelle mir die Frage, wie das Konzert mit so wenigen Fans wohl sein wird. Ich bin der Meinung, dass es in 12 Minuten losgeht und hoffe, dass gleich die Fans aus den Gängen hineingestürmt kommen, um eine fette Deichkind-Party mit allem drum und dran abheben zu lassen. Bald darauf stellt sich heraus: Das Konzert beginnt erst in 42 Minuten und ich bin erleichtert. Eine Vorband haben Deichkind nicht mit an Bord. Stattdessen wird das Publikum mit Musik beschallt und die dazugehörigen Videos werden auf einer großen Leinwand auf der Bühne abgespielt. Auf selbiger meldet sich Porky kurz vor Beginn des Konzertes zu Wort: „Wir wünschen uns, dass unser Konzert ein sicherer Ort ist. Wir dulden keine Form von Diskriminierung und Gewalt, also gebt bitte aufeinander acht!“
Anstatt dass es losgeht, reihen sich noch ein paar Lieder in die Warteliste ein. „Whoomp! There it is“ von Tag Team läuft noch durch die Boxen, gefolgt von „I want to break free“ von Queen, welches die Kehlchen schon mal fein warm singen lässt. Wenn die Fans gleich bei Deichkind auch so eifrig feiern, kann es nur fett werden. Und, ganz ehrlich: Ich erwarte nichts anderes.
„99 Bierkanister“ präsentiert sich als Opener. Und Zack, wie erwartet herrscht von der ersten Melodie an eine bombastische Stimmung. Ein guter Start, mit einem Lied von dem Album „Befehl von ganz unten“ aus dem Jahr 2012 einzusteigen. Es wird gesungen und gejubelt, was das Zeug hält. Die Fans in der ersten Reihe, feierlich dekoriert mit Brillen aus leuchtenden Knicklichtern, sind textsicher und haben Bock! „So’ne Musik“ und „Geradeaus“ von dem zuletzt erschienenen Album „Neues vom Dauerzustand“ folgen.
Wer Deichkind schon einmal live gesehen hat, weiß, dass es auf der Bühne rund geht. Jedoch auch gut möglich, dass du die Band noch nicht live erleben durftest – und dass du dennoch eine Ahnung davon hast, was dort alles abgeht. Ihr Ruf eilt ihnen voraus. „Auch im Bentley wird geweint“ wird diesem direkt gerecht. Wer reitet schon auf einer XXL-Designerhandtasche auf der Bühne einer Arena?! Wie beim Rodeo reitet die Tasche hin und her und gibt einen ersten Vorgeschmack auf die Kreativität und Vielfalt, mit der dieses Konzert gespickt ist.
„Ihr seid so krass verschieden, ihr seid so unterschiedlich und trotzdem seid ihr alle hier! Schaut euch um, liebe Menschen, lasst uns verschmelzen zu einem riesen Klumpen Energie. Dortmund und Deichkind, wir gehören zusammen.“
„Porzellan und Elefanten“ bietet eine Regenschirm-Performance par excellence. Und bevor der Gesang erklingt, erwarte ich irgendwie, dass eine Version von „Umbrella“ folgt. Was natürlich nicht der Fall ist.
Deichkind werden nicht müde, immer wieder zu erwähnen, wie wichtig ihnen gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz sind. Auch legen sie ihren Fans ans Herz, an diesem Konzertabend schön Kraft zu tanken. Hier und heute bei Deichkind. Denn „Die Welt ist fertig.“ Eine Performance von sieben Deichkindern, die auf Säulen, mit rot leuchtenden Stäben in der Hand, ihre Choreografie präsentieren, ist die nächste Showeinlage. Darauf folgt „In der Natur“, zu dem sich Menschen in neongrünen Schutzanzügen den Weg zwischen den Säulen hindurch bahnen. Nebel wabert über die Bühne, bevor sich deren Elemente in Bewegung setzen, um das Bühnenbild zu verändern. Zum Vorschein kommen Säulen, auf denen Worte geschrieben stehen, und alle Deichkinder tragen weiße Jogginganzüge, auf denen der passende Text zu #wsdd „Wer weiß denn sowas“ geschrieben steht.
„Habt ihr Energie für den Moshpit der Liebe?! Ich will jetzt einen ganz besonderen Moshpit sehen. Ohne sexistische Scheiße, ohne Gewalt!“ Nicht nur in ihren Ansagen verdeutlichen Deichkind immer wieder ihre Stellung. Wer neben all der fetten Party, die da vor und hinter der Bühne abgeht, mal genauer auf die Texte der Band hört, wird feststellen, dass auch diese sich nicht permanent um gute Laune, Blümchen und eitel Sonnenschein drehen, sondern sehr deutlich Missstände und harte Kost auftischen.
Konfettischlangen fliegen durch die Luft.
Der Moshpit endet und die Band verschwindet hinter einem weißen Vorhang. Ein kleiner Moment des Wartens lässt mich gebannt sein, was sich nun auf der Bühne und an der Band verändern wird.
Eigentlich könnte ich zu jedem Lied eine neue Beschreibung abliefern, was es zu bestaunen gibt. Zu „Ich bin ein Geist“sind die drei Sänger in silberne Kostüme gehüllt, die an Astronauten erinnern. Und outdoorbekleidet liegt bereits einer von ihnen mit einem Schlafsack auf einer Liege, die an der Decke befestigt ist und rapt von dort aus ganz alleine „Kids in meinem Alter“.
„Wollt ihr noch ein paar Klassiker hören? Die Stimmung passt ja.“ „Komm schon“ wird gefolgt von „Bück dich hoch“. Auch zu diesem Lied von dem Album „Befehl von ganz unten“verzichtet die Band nicht darauf, ganz eindeutig klar zu machen, was sie von braunem Gedankengut halten. Sieben Bürostühle rollen mit ihren Fahrgästen über die Bühne und kreieren im Laufe der Performance für einen Moment die Botschaft „Fuck AFD“. Jeder der Stühle hat einen Buchstaben aus dickem, weißem Klebeband auf der Rückenlehne kleben, sodass sich im Laufe des geschmeidigen Rollens über die Bühne diese klare Botschaft ergibt.
„Richtig gutes Zeug“ Mit riesigem XXL-Rucksack, auf dem man sogar die Marke gut erkennen kann, tapert der Sänger auf die Bühne. Ein originalgetreuer Wanderrucksack, der einfach großartig aussieht und aus welchem ein XXL-Apfel-Handy und zuvor ein XXL-Selfie-Stick hervorgezaubert wird. „Darf ich ein Selfie von euch machen?“ Fantastisch.
Im Laufe der langen Show gibt es immer wieder kleine Umbaupausen. Und es ist so spannend zu sehen, was da als nächstes kommt. Was für ein neues Bühnenbild, was für ein neues Bühnenoutfit oder welcher besonders kreative Gegenstand. Ich würde ziemlich gerne neben oder hinter der Bühne stehen, um dem ganzen Treiben zuzuschauen und die Präzision, die hinter dieser ganzen Show stecken muss, meiner Aufmerksamkeit zu schenken.
Bei „Arbeit nervt“ erscheint ein Bild, das sicherlich jeder auf irgendeine Art und Weise von Deichkind kennt. Die Band steht vor einem gelb-schwarz gestreiften Hintergrund und ihre Köpfe werden von Tetraedern geziert, sodass ihre Gesichter gar nicht zu erkennen sind. Zwischen ihnen, in der Mitte, steht ein einarmiger Roboter, wie ich ihn mir für die Arbeit in zum Beispiel der Automobilindustrie vorstelle. Gut möglich, dass ich nicht die einzige Person im Raum bin, die diesen Song so richtig fühlen kann.
„Könnt ihr noch?“ Eine berechtigte Frage zum gleichnamigen Song. Für einen Moment scheinen die Fans Luft zu holen und sich auf die kommenden Highlights des Konzerts vorzubereiten und etwas Kräfte zu sammeln. Wir haben die „Bude voll People“! Like „The Beautiful People“ von Marilyn Manson schwebt durch meinen Kopf. In die Fässer. Fertig. „Roll das Fass rein!“ Auf das Fass freuen sich die Fans ganz offenbar besonders. Sie wissen, was sie kommt und jubeln lauthals, als ein großes Fass neben der Bühne auftaucht und sich rollenderweise, flankiert von Security, den Weg durch die Fans bahnt. Während drei Deichkinder im Fass sitzen, sich mit dem Mikro in der Hand weit hinausbeugen, hockt einer oben auf und schwenkt eine große, weiße Fahne. Auf dieser steht in großen Lettern „Sind alle Anwesenden der Meinung, dass ‚Könnt ihr noch‘ im aktuellen Zustand der Welt eine gute Frage ist?“
Zu „Niveau weshalb warum“ bleibt das Fass zunächst Teil der Bühnenshow, welches zuvor auf die Bühne gehievt wurde.
„Hört ihr die Signale?“ Die Saufsignale. Bier wird über Schläuche in den ersten Reihen verteilt. Denn „die Signale sind eindeutig“. Zum Ende hin wird nochmal so richtig Stimmung gemacht und alles angeheizt, was geht. „Das war’s. Oder? Das war’s. Tschau Dortmund. Aber ich habe noch eine Frage an euch. Wollt ihr mit Abendbrot essen?! Eigentlich lautet die Frage: ‚Wollt ihr mit uns ans Limit gehen?!‘“
Konfettischlangen-Kanonen werden von der Bühne Richtung Publikum abgefeuert und „Schon am Limit“ ist hier scheinbar niemand. Und dennoch wird es dunkel. Und leise. Deichkind scheinen sich verabschieden zu wollen. Zugabe-Rufe, das Klatschen und Pfeifen der Fans dröhnen durch die Westfalenhalle. Ein ganz entscheidender Hit fehlt noch auf der Liste der – sage und schreibe – 26 Lieder, die heute Abend ihren Weg durch die Boxen gefunden haben.
„Remmi Demmi.“ ist auch absolutes Remmi Demmi und Durchdrehen, wo es nur geht. Selbstverständlich ist dieser Song der absolute Kracher und ein fettes Sahnehäubchen mit Kirsche für einen durch und durch mega guten Abend.
Ein Deichkind sitzt in einem übergroßen Trampolin-Planschbecken (oder sowas in der Art) und entfacht eine XXL-Kissenschlacht. Eine einseitige zwar, aber dennoch keine, die ihre Wirkung verfehlt. Die Fans sind mit Schweiß geteert und gefedert. Währenddessen steigt auf der Bühne eine riesige Abschlussparty und jeder ist auf der Bühne vertreten. Inklusive Handtasche und Scheiße-Emoji.
Und tatsächlich schafft es ein Fan, sogar mit in das Trampolin zu hüpfen und ist das letzte kleine Stück darin mitgetragen worden, um letztendlich auf der Bühne zu stranden. Liebe Deichkind, ich bin begeistert. Punkt. Ich habe erwartet, einiges geboten zu bekommen. Meine Erwartungen wurden übertroffen. „Leider geil“.
Fotocredit & Review: Sarah Fleischer