Knappe sieben Jahre sind seit dem letzten Album von Kettcar vergangen, doch auch heute noch wirkt „Ich vs. Wir“ (inklusive der EP-Fortsetzung „Wir vs. Ich“) so relevant und aktuell wie zum Erscheinen im Herbst 2017. Dass eine Band 15 Jahre nach Gründung ihr bis dahin bestes Album veröffentlicht ist auch eher selten, so titelte der Spiegel damals: „Eines der kraftvollsten und wichtigsten deutschen Alben des Jahres“. Ob ihr neuer Langspieler, der am Freitag erscheinen wird, da mithalten kann, checken wir in unserer Review für euch ab.
In meiner Funktion als glühender Kettcar-Fan sind da sehr viele Gedanken im Kopf, sobald die ersten Töne von „Gute Laune, ungerecht verteilt“ erklangen. Insgesamt erwarten die Hörenden zwölf neue Songs, die auf vielen Ebenen so sehr nach Kettcar klingen, dass man es kaum glauben mag. Eine der typischen Eigenschaften wird nach dem ersten Hören sofort klar: das Album einmal durchlaufen lassen reicht nicht ansatzweise, um die Raffinesse der Hamburger Band vollends zu durchdringen. Um mit „Ich vs. Wir“ warm zu werden, brauchte es für manche Songs wirklich einige Monate, bis sie sich richtig angefühlt haben. Nach dieser Zeit konnte man die Tracks umso mehr wertschätzen, und es ist vorstellbar, dass es sich bei „Gute Laune, ungerecht verteilt“ genauso verhalten könnte. Es ist keine Abneigung da, sondern ganz im Gegenteil. Es fühlt sich ein bisschen so an, als ob man neue Freundschaften schließen würde. Dabei gilt es auch erst positive Seiten sowie manche Schwächen kennenzulernen, aber immer weiter zusammenzuwachsen, wenngleich manche Zeiten herausfordernd wirken.
Und dies ist wie „Auch für mich 6. Stunde“ direkt die passende Einleitung ins Thema. Kettcar haben sich keinen leichten Stoff zum Erzählen ausgesucht, was mit den ersten beiden Wörtern „Mittelmeer, Massengrab“ unmissverständlich umrissen wird. Weiter im Text heißt es „Unser politischste Album seit…“ und man möchte es genauso unterschreiben, wobei lyrisch das ganze sofort wieder durch die nächste Zeile „Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen“ entkräftet wird. Ob man damit das Eigenlob untergraben oder eine tiefere Ebene ansprechen wollte, bleibt offen und der eigenen Interpretation überlassen, welches ebenfalls ein sehr markantes Kettcar-Thema ist: Die Lyrik ist so pointiert formuliert, dass sie problemlos Stoff für Analysen im Deutsch-Leistungskurs bieten könnte. Man muss diese Art von Verschmelzung von Musik mit nachdenklichen, politischen Texten mögen, sonst mag es vielleicht schnell zu überfordernd wirken. Doch, wenn man sich drauf einlässt, malen Kettcar mit Songs wie „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ ein düsteres, wenngleich realistisches Bild.
Klingt alles so gar nicht nach guter Laune. Immerhin lässt „Was wir sehen wollten“ und „Zurück“ Hoffnung anklingen, wenn man so möchte. Abgesehen davon ist das Klangbild das hauptsächliche Argument für Euphorie. Denn der Sound, sowohl der Instrumentierungen als auch der von Marcus Wiebusch, klingt einfach so als wäre man kurz in der Zeit zurückgereist und 2005 bei „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ stehengeblieben. Denn genauso klingen die versöhnlichen und beinahe erhebenden Melodien. Hätte ich mir einen Sound wünschen dürfen, ich hätte es mir nicht schöner vorstellen können. Zudem lassen sich auch einige ähnliche Stilmittel erkennen, die das Fanherz höher schlagen lassen. Die Stimme, die dabei durch das Werk führt, ist gleichzeitig einfühlsam und doch unnachgiebig, so wie es die Songs eben brauchen.
Damit haben die Jungs insgesamt einen ganz großen Wurf gemacht, weil die Synthese von harten und dennoch lyrisch anspruchsvolleren Texten mit wunderschönen, leichten Melodien meiner Meinung nach noch besser gelingt als auf dem letzten Album. Natürlich war es nicht die Aufgabe von „Ich vs. Wir“ das überhaupt leisten zu müssen oder zu wollen, aber es ist schon beruhigend zu wissen, dass Kettcar es beherrschen ihre wahren Stärken virtuos miteinander zu verknüpfen. Ganz besonders kommt dies noch einmal bei der letzten erschienenen Single „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“ zur Geltung, welches das Album nicht besser und ehrlicher hätte abschließen können. Vor dem sechsten Studioalbum kann man sich nur verneigen und es noch ganz oft anhören, bis man die wahre Größe von Kettcar auch nur rudimentär erkennen kann.
Fotocredit: Andreas Hornoff