Es kann sich keine Situation ausgedacht werden, die gleichzeitig so viele Existenzen gefährdet als auch Menschen an den psychischen Abgrund stellt, wie diese. Und trotzdem ist sie seit einem Jahr unsere Realität geworden. Irgendwie traurig, oder? Das befindet auch unsere Redakteurin Jacky im Zoom-Interview mit Milliarden-Pianist Johannes (Jo) Aue (rechts im Bild). Nach einem frustrierenden Einstieg in das neue Jahr, und damit metaphorisch gesehen auch in das Interview, arbeiten sich die beiden zum neuen Album „Schuldig“ vor, welches am Freitag erscheinen wird. Und das gibt nicht nur Hoffnung, sondern erinnert Jo auch daran, warum er das alles macht. Dass es Menschen, Musik und Gefühle gibt, die es alle wert machen und dass am Ende halt nicht alles schlecht ist, wenngleich man sehr ungewiss auf eine Tour 2022 blickt. Trotzdem sollte man sich so oft wie möglich positive Momente vergegenwärtigen. Und damit Willkommen zur Therapiestunde mit Milliarden!
Frontstage Magazine: Wie geht’s euch? Wie war der Einstieg ins neue Jahr?
Jo: Irgendwie dieses Mal nicht so spektakulär, also es ist gerade nicht so eine große Vorfreude da. Also natürlich der Einstieg mit der Familie und Freunden war so schön wie immer, aber aufs Berufsleben bezogen eher ein kleiner Downer. Also jetzt zum zweiten Mal die Tour verschoben. Ich fühle mich gerade so, als muss man so viele Sachen gerade aushalten und ist so im Ungewissen.
Frontstage Magazine: Nicht so geil. Was macht für dich diese Ungewissheiten im Moment aus?
Jo: Jetzt einfach erstmal auf meinen Beruf, die Musik und meine generelle Arbeit bezogen ist da natürlich die Kunst, die gerade nicht an erster Stelle steht. Deswegen ist es für mich der Punkt, der am wichtigsten ist. Ich kann da null planen und wir als Band bringen jetzt unser Album raus und können nicht live spielen. Dabei haben wir uns als Band etabliert, dass wir eine Live-Band sind und keine Online- oder Internet-Band, die auf allen Plattformen stattfindet und ihre Klicks generiert auf YouTube und Spotify, sondern live unsere Freude spreaden, dass uns Leute sehen, hören und mit uns abgehen. Und das geht jetzt erst ein Jahr, das kann man ja eigentlich alles aushalten, aber so langsam als kleine Band, die natürlich damit auch ihr Geld verdient, geht das halt nicht mehr so lange so gut. Aber das sind jetzt halt diese kleinen Faktoren für mich in meiner kleinen Welt, die es sehr ungewiss machen.
Frontstage Magazine: Stimmt auf jeden Fall. Mit eurem neuen Album ist das jetzt auch so eine Sache. Man sieht schon im Hintergrund die Vinylplatten auf dem Sofa stehen.
Jo: (dreht sich um) Das ist jetzt unsere Merch-Abteilung hier. Wir haben unser eigenes Label gegründet und sind jetzt weg vom großen Label und machen alles allein. Deswegen natürlich volle Konzentration auf das Album. Man merkt, dass alles selber zu machen wunderschön ist, aber auch sehr viel Arbeit. Man hat den Kopf dann auf einmal überall; da kommt viel zusammen. Man ist sein komplett eigener Chef, aber kann jetzt gerade aber keine Musik spielen. Also wirklich kein guter Start ins Jahr!
Frontstage Magazine: Da muss ich dir Recht geben. Zumindest kommt das neue Album jetzt, immerhin sollte es eigentlich schon vor einem Jahr so weit sein.
Jo: Ja, es war für uns auch echt eine kleine Odyssee. Wir haben wieder mit tollen Produzenten zusammengearbeitet. Auf dem Weg haben wir uns leider von einem getrennt, weil wir zeitlich so drüber waren und die Corona-Pandemie dazwischenfunkte und dann natürlich auch Geld und Zeit eine Rolle gespielt haben. Dann ist zum Glück ein Freund um die Ecke gekommen, der uns half, weil wir echt an dem Punkt schon so down waren und es so viel länger gedauert hat als wir wollten, aber am Ende war es auch gut so. Weil der Sound durch unseren neuen Produzenten noch einmal stärker, schöner und mehr in die Richtung ging, die wir überhaupt wollten. Es ist für uns noch fantasievoller. Irgendwie war alles dabei.
Frontstage Magazine: Man kriegt im Leben nicht das Gute ohne das Schlechte. Das ist leider so.
Jo: Manchmal muss man das echt so nehmen, wie es kommt. Aber ost ist es auch sehr schwer, wenn man gerade kurz vor Albumabschluss ist und dann so nicht weiterarbeiten kann und zweifelt „Wie willst du weitermachen? Woher soll ich die Energie nehmen?“ Und manchmal kommt dann trotzdem so ein kleiner Engel um die Ecke.
Frontstage Magazine: Voll schön! Hat man da irgendwas gefunden, auf das man sich konzentrieren und fokussieren konnte, um energiegeladen weitermachen zu können?
Jo: Also in erster Linie waren es die Songs. Man hat ja für sich selber immer so ein, zwei Goldstücke auf dem Album. Und sagt sich dann, dass es schon für einen selber so viel wert ist, und wenn es rauskommt, dass es vielleicht ein paar Andere hören und das fühlen, was man selber fühlt. Für die anderen Fragen, wie man es überhaupt umsetzt, habe ich das Glück mit dem Ben zusammenzuarbeiten und wir sozusagen mit einem Partner dadurch rauschen, was einem ein bisschen mehr Halt gibt oder das Gefühl nicht alleine zu sein. Dass jemand dieselbe Fantasie teilt. Musik machen ist eine Entscheidung, wie alles im Leben, aber ich glaube, es ist gerade nicht die beste Zeit für Rockmusik.
Frontstage Magazine: Irgendwie nicht. Aber es ist ja trotzdem eine wichtige Entscheidung und eine Entscheidung, die euch erfüllt.
Jo: Da schaut man auch, was überhaupt wichtig ist. Und das Wichtigste ist halt Musik zu machen und darüber einen Ausdruck zu finden oder Verständnis zur Welt.
Frontstage Magazine: Gab es für euch jemals einen Plan B? Auswandern zum Beispiel?
Jo: Ben wäre auf jeden Fall der Typ, der auswandert. Ich glaube mein Plan B wäre erst einmal wieder Kisten zu packen in einem Merch-Lager für eine andere Band und einfach weiter Musik machen. Schauen, dass man selber produzieren kann, dass man sich darin fortbildet und den Plan B dann eher darauf aufbaut. Einfach weiter Musik zu machen, das ist ja die Leidenschaft.
Frontstage Magazine: Irgendwann gibt es ja vielleicht ein Licht am Ende des Tunnels, vielleicht ja eure Tour 2022.
Jo: Es ist wirklich passiert! Wir haben gedacht „ey, wir müssen das eh aufs nächste Jahr noch verschieben“ und alle so „nein, wir spielen doch nicht erst wieder 2022“ (zeigt den Vogel) und jetzt ist es so gekommen. Leider.
Frontstage Magazine: Echt traurig. Wie ist es für euch eigentlich, merkt ihr gravierende Unterschiede zwischen Headliner- oder Supporttours?
Jo: Von Wegen Lisbeth ist jetzt erst einmal unsere letzte Supporttour gewesen. Ich denke, wir konzentrieren uns jetzt erst einmal wieder darauf selbst der Headliner zu sein. Aber ich glaube, und das ist ja das Schöne, das sieht man, wenn es um die Albumverkäufe geht oder um die persönlichen Nachrichten, dass da echt eine kleine Fanschaft herangewachsen ist, die uns so heftig supported, die uns auch immer sagt „macht mal euer eigenes Ding und seid selbst Headliner“. Das ist ein schönes Gefühl, wenn man als nicht die allergrößte Band Deutschlands so einen Support bekommt, der dazu motiviert einfach weiter zu ackern und gucken, dass das die Leute berührt, was man macht.
Frontstage Magazine: Das tut es auch auf jeden Fall, das merkt man ja. Du hattest vorhin von deinen Goldstücken des Albums gesprochen und jetzt bin ich sehr gespannt, was deine Favoriten sind. Bei mir war es „Ich schieß dir in dein Herz“.
Jo: Das liebe ich auch, gerade weil es ein Klavierlied ist (lacht). Finde ich einfach einen wunderschönen Song, der auch so schön direkt, ehrlich, offen und verwundet ist. Die meisten Songs auf unserem Album sprechen eher von einer Sehnsucht, die keine Antwort liefert. Was ich aber sehr mag an uns! Also dass man immer in einem Sehnsuchtsgefühl drin ist, was Benni für mich in den meisten Punkten auch extrem gut beschreibt. Da gibt es auch noch andere schöne Songs.
Frontstage Magazine: Zum Beispiel?
Jo: Über alles liebe ich „Schuldig sein“, den ersten Track. Ich finde ihn wunderbar leicht. Ein anderer Track, der mich irgendwie in eine andere Welt entführt, ist „Wonderland“. Da passiert irgendwas mit den Instrumenten und mit Bennis Stimme. Zudem was der Refrain ist, keine Ahnung, das flirrt alles so rum (große Gestik mit Lächeln) und ist manchmal für mich in den 70ern oder auch mal bei Rio Reiser. Es ist so etwas Sehnsuchtsvolles und Zeitloses. Und ich bin da gar nicht so sehr bei uns, sondern das ist einfach ein freier Song, der von jedem gespielt werden kann und darf. Das ist einfach so ein Aufbruchslied.
Frontstage Magazine: Ja, das wäre auch mein zweiter Favorit. Du hast es eben auch schon super gut angesprochen mit den Motiven Sehnsucht, Freiheit und Liebe, mit denen ihr am häufigsten arbeitet. Wie ladet ihr diese Begriffe auf und wie wichtig sind sie für euch als Band?
Jo: Diese Schlagwörter sind auf jeden Fall Teil unseres Lebens und auf jeden Fall der größte Teil von Ben. Wenn du Ben persönlich kennenlernst, merkst du, dass er ein extremer Gefühlsmensch und der in sehr großen, starken Extremen lebt und fühlt. Und das in jeder Beziehung, auch auf Arbeit. Einmal ist es das Gefühl von ganz oder gar nicht, was ich auch extrem teile. Also kompromisslos mit der ganzen Energie zu arbeiten und komplett auf die Wahrheit zu gehen. Das Gefühl von der permanenten Ehrlichkeit hat mich auf jeden Fall dazu getrieben, dass ich auch so arbeite wie Ben oder dass wir zusammen so gut arbeiten, dass wir gefühlt auf ein anderes Level kommen, was schon fast einer Beziehung gleicht. Es gibt immer Hochs und Tiefs, die einfach extrem gelebt werden und dadurch kommt es dazu, dass man Sachen so wahrnimmt und so beschreiben möchte. Dass man sich wie jeder, der alleine im Bett liegt, fragt, was man hier überhaupt macht, wer man ist, was das Leben ist und was passiert, wenn ich sterbe und woran werden sich die Leute erinnern oder auch nicht. Dann sind wir genau dahin gekommen, worüber wir sprechen wollen, über die alltäglichen Probleme, Gefühle, aber auch über die Sehnsucht. Und das ist es: einfach so pur wahrnehmen und raushauen.
Frontstage Magazine: Das ist schön zusammengefasst. Es macht es authentisch und ist auch ein Grund eure Musik zu hören. Was mich noch interessieren würde ist wie die Entstehungsgeschichte zu dem Video „Wenn ich an dich denke“ war beziehungsweise, wie ihr auf die Idee gekommen seid?
Jo: Das war ein Zusammenspiel tatsächlich von Ben und dem Regisseur Frederic Detjens, der für uns schon mal das Video zu „Milliärder“ gemacht hat. Da wir mit unserem eigenen Label an den Start gegangen sind, haben wir nicht mehr so viel Geld zur Verfügung. Ben hatte schon so eine Idee und Fredi hat die dann verfeinert. Damit hatten wir ihn und eine Location und mussten nur noch gucken, wen wir überhaupt einladen wollen zu diesem kleinen Experiment, der sich auch drauf einlässt. Da ist ein schöner Dreh entstanden. Alle Leute in dem Video sind Freunde oder Bekannte. Natürlich musste es auch coronakonform sein, dass es immer nur eine Person im Raum mit einer Kamera und einer zweiten Person, die das anleitet oder eine Art Regie führt (lacht), gibt. Wir haben unsere Freunde in dem Moment dazu bewegt, dass sie entweder Lust spielen, sich selbstbefriedigen oder in irgendeiner Art und Weise eine Emotion ins Extreme führen. Dadurch sind bei allen extrem schöne, unterschiedliche Momente entstanden. Der Großteil durfte nicht reingenommen werden ins Video (lacht), aber es war eine schöne Erfahrung. Der Fredi hat es so schön gemacht, dass es ein einheitlicher, aber dadurch auch diverser, lustvoller Moment geworden ist, der keine, glaube ich, gespielten Emotionen zeigt.
Frontstage Magazine: Wie wurde das angenommen? Gab es Unverständnis?
Jo: Ja, wir hatten ein, zwei Leute, die nicht mit im Video sind, weil es zu überrumpelnd war oder nicht mit ihrem Berufsleben vereinbar, was auch voll verständlich ist. Aber das Gute ist, dass wir auch Musiker, Schauspieler oder Leute wie Wilson Gonzalez-Ochsenknecht, haben, die sich ausprobieren wollten. Es gab aber auch Situationen mit dem Neffen von Ben zum Beispiel, der auch im Video ist, den Benni auch eher durch eine Atemtechnik auf so ein anderes „High“ gebracht hat und der dann auf einmal fast abgeklappt wäre.
Frontstage Magazine: Ich finde es schade, dass man sich überhaupt dafür „schämen“ müsste beruflich in so einem Video mitzuspielen, dass dieses Tabu-Thema nach wie vor in unserer Gesellschaft dermaßen verankert ist.
Jo: Absolut. Wir leben in einer Gesellschaft, die wir selbst gemacht haben, die uns selbst aber so viele Grenzen aufzwängt, die man auch hin und wieder hinterfragen sollte. Aber trotzdem sollte man auch Verständnis dafür haben, dass es eine Gewohnheit ist, die man nicht so leicht durchsprengen kann, was man auch beim Videodreh mit unseren Freunden sieht. Die es nicht machen wollten, weil das vielleicht irgendwelche Leute blöd oder komisch finden, obwohl es das Normalste der Welt ist. Und das Allerschönste!
Frontstage Magazine: Beschäftigt man sich noch mit dem Feedback dazu?
Jo: Ja, der allergrößte Teil sind ja auch einfach sehr liebevolle, schöne Kommentare. Aber es ist so krass, dass negative Kommentare gefühlt immer alles überschatten. Also es ist fast so, dass das Schöne über die Zeit so „normal“ geworden ist, aber einen immer noch diese komischen Kommentare wurmen. Dann muss man sich auch mit den Leuten beschäftigen, die gar nicht in meiner Welt stattfinden. Also ich möchte darauf eingehen und mich fragen, woher das Gefühl kommt, was jemand da negativ gerade in dem Moment mitzuteilen hat. Weil ich glaube, dass es das Wichtigste ist Leute zu verstehen, egal, welche Position man selber hat. Wir versuchen dann immer gemeinschaftlich damit umzugehen. Ich bin da immer sehr impulsiv und will sofort antworten. Dann erinnert mich Benni daran mich zu entspannen und dann ist es cool. Aber wir gehen eigentlich auf alles ein, aber auf die netten und lieben Kommentare gehe ich meistens immer nur mit dem Herz, was man denn eben anklicken kann (Schulterzucken), ein.
Frontstage Magazine: Ich glaube, es würde uns auch allen besser gehen, wenn wir uns eher um diese Positivkommentare kümmern würden.
Jo: So ist es! Danke für die kleine Therapiestunde (lacht), hat schon wieder geholfen.
Frontstage Magazine: Ich finde echt, dass es hilft so etwas auszusprechen, und sich auf die positiven Werte zu besinnen. Auch wenn man das zwischendurch mal vergisst.
Jo: Ja voll, es gibt die geilen Leute überall und die guten Gefühle. Das Einzige, was einem bleibt, ist das im Kleinen oder im Großen zu teilen.
Frontstage Magazine: Eben, es ist nicht alles schlecht! Was war das Beste, was dir letzte Woche widerfahren ist?
Jo: Als ich zu unserem Booker gefahren bin, der jetzt mittlerweile auch unser Manager ist, weil er meinte, wir müssten ein „paar“ Fanboxen unterschreiben. Er hat uns damit überrascht, dass es nicht nur ein „paar“ waren, sondern so viele, dass wir gefühlt sechs Stunden zusammensaßen und die ganze Zeit unterschreiben mussten. Das hatte ich auch noch nie. Das war ein schöner Moment, nach all dieser Arbeit zu sehen, dass Leute da draußen sind, die uns unterstützen und im Moment der Krise eine Fanbox von einer Band zu holen, finde ich nicht selbstverständlich. Das war ein extrem schöner und toller Moment.
Frontstage Magazine: Siehst du, das freut mich sehr! Die letzte Frage, die immer weniger mit der Musik zu tun hat, sondern mehr mit Persönlichem lautet: Was wärst du geworden, wenn du nicht Musiker geworden wärst?
Jo: Ehrlich: Dann wäre ich in so ein Berufsfeld gegangen wie meine Eltern. Meine Mutter leitet ein Altenheim und ist Sozialpädagogin und mein Vater war Diakon und ist auch eine Art Sozialarbeiter für kleine Gemeinden. Wäre die Musik nicht da, würde ich im sozialen Bereich arbeiten, am liebsten mit geistig und körperlich behinderten Menschen. Da habe ich mein Praktikum gemacht und da habe ich eine Erfüllung drin gefunden, neben der Musik.
Träumerisch: König von Deutschland.
Frontstage Magazine: Sehr schön! Vielen herzlichen Dank für das schöne Interview und die positiven Gedanken.
Jo: Ich danke dir für das schöne Gespräch und bis hoffentlich bald.
Fotocredit: Christoph Voy